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Neue Serie - Folge 1: Tanzen lernen mit dem Tagesspiegel

Im Sommer draußen, im Winter im Ballhaus: In Berlin wird so viel getanzt wie nirgends im Land. Mit alter Schule hat das nichts mehr zu tun. Es geht ums Spaßhaben. Und Hotspots gibt es genug.

Früh um drei beim Lindy Hop legt Jerry mit seiner Tambour-Trommel noch mal richtig los. Mit zwei kleinen Stahlbesen fegt er über die Trommel und gibt seinen Musikern den Takt vor: Jerry Jenkins „Band Of Angels“ macht mit Geige, Saxophon, Akkordeon und Drums selbst müde Tänzer wieder flott. An der Bar leert es sich, die Paare legen los, als sei es nicht schon Morgen. Lindy Hop: der Name des Swing-Klassikers hängt mit Charles Lindbergh zusammen. Als der mit seiner „ Spirit of St. Louis“ 1927 den Atlantik überquerte, kam auch der Swing wie im Fluge aus den USA nach Europa. Noch ist es dunkel vor den Loftfenstern der Goerzhöfe, einem denkmalgeschützten Industrieensemble an der Friedenauer Rheinstraße. Im Saal Klinkermauern, teils schick geweißt, Stahlträger. Unter Kronleuchtern schimmert es rötlich. Das ist die Stimmung, die Berlins Tanzszene liebt, hier, beim „Honeyball“, zum Start in den Tanzwinter mit Jerry Jenkins, dem Andreas Hofschneider-Quartett und DJ Wuthe am Grammophon im Musicalzentrum „Stagefactory“. Nur eine von vielen boomenden Berliner Tanzadressen. An der Spree wird in so großer Zahl, so quirlig und vielfältig getanzt wie nirgendwo in der Republik.

Tanzschule, Übungspartys, der erste Ball – dieser klassische Weg „ist zunehmend out“, sagt Ulrike Albrecht vom Ballhaus Walzerlinksgestrickt am Tempelhofer Berg in Kreuzberg. Man lerne nicht mehr tanzen, um gesellschaftlich fit zu sein, sondern um Party zu machen. „Die meisten Leute gehen erst mal gucken bei einem der Tanzevents – dann bekommen sie Lust auf mehr.“ Zumal bei fast jedem Tanztreff anfangs ein Beginner-Crashkurs als Anti-Blamier-Programm offeriert wird. Danach swingt, walzt, twistet alles bunt gemischt drauf los, hält sich selten an die vorgeschriebene Tanzrichtung und amüsiert sich prächtig.

An Tanzangeboten ist die Stadt wieder fast so reich wie in den legendären Zwanzigern. Die Tangoszene wiegt sich in Sommernächten draußen, zum Beispiel vor der Neuen Nationalgalerie. Andere haben Spaß in Strandbars. Außerdem gibt es angesagte Adressen wie den „Grünen Salon“ in der Volksbühne, die „Charming Salon Party“ von Berlin-Story Unter den Linden, die „Belle Etage“ am Lietzensee, das „Havanna“ an der Schöneberger Hauptstraße oder das Kaffee Burger an der Torstraße in Mitte, beliebt wegen seines „Dusty Ballrooms“. In Kreuzberg ist das Café Fatal im „SO 36“ eine Institution: Anfangs ein Treff von Schwulen und Lesben, schwofen hier längst auch Heteros.

Clärchens Ballhaus an der Auguststraße in Mitte, gegründet 1913, gilt heute als Hot Spot für Junge und Ältere. Hier geht es traditionell und zugleich trendy zu. Und „Bohème Sauvage“, das Ballereignis im Stil der Roaring Twenties, hat sich seit 2008 zum Senkrechtstarter entwickelt. Wer dabei sein will, muss vorher zum Kostümverleih.

Eine exklusive Adresse hat sich die Tanzschule Traumtänzer gesichert. Sie unterrichtet im „Silverwing“, dem einstigen US-Offizierskasino im Tempelhofer Flughafengebäude. Neben den Standards kann man auch hier immer mehr Trends in Spezialkursen trainieren. Die Tanzszene sei „super individuell geworden“, heißt es dort. „Die Leute sehen bei einer Party einen bestimmten Stil, auf den fahren sie dann ab.“ Statt Allrounder sind also bei den Lehrern mehr und mehr Experten gefragt – für Mambo, Charleston, Boogie, Salsa, Swing, Jive, Rock’n’Roll oder – „Hee haw“ – den Line-Dance, gehüpft zu Country-Rhythmen. Immer öfter geben auch Gastlehrer-Stars Workshops. Besonders beim Tango Argentino. In den Neunzigern gaben sie Gastspiele in Paris, heute ist Berlin ihr Hotspot.

Die Uhr ist weiter vorgerückt. Orangefarbene Spots auf dem Parkett, Melancholie im Raum. Die Paare folgen den Klängen des Bandoneon: Tango Argentino-Nacht im „mala junta“ an der Schöneberger Kolonnenstraße. Man bewegt sich mit Eleganz, in enger Umarmung. Doch der Tango Argentino ist kein dauerhafter Fall für zwei: Immer nach vier Stücken, einer Tanda, sucht man sich neue Partner. Das ist so üblich in den Milongas von Buenos Aires – und in Berlin.

Folge 2 erscheint Di., 23. November

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