zum Hauptinhalt
Ski

© Reuters

Winterwetter: Stadt in Watte

Doch, das gibt es noch: Berlin wird zur Winterlandschaft. Draußen wirkt alles so friedlich, das hektische Treiben versinkt im rieselnden Schnee. Balsam für die Seele, sagen Psychologen.

Irgendwas stimmt da nicht. War der Berliner Winter nicht in den letzten Jahrzehnten zu einem unerträglichen Gematsche geworden, zu einem – um Heinrich Heine zu variieren – grau angestrichenen Frühling? Wenn es hochkam, fiel mal ein wenig Puderzucker auf die Stadt, der sich dann innerhalb weniger Stunden und Tage in eisige Endmoränen am Straßenrand verwandelte, gesättigt von Granulat und Streusalz. Oder es packte uns strenge Kälte, die zwar die Gewässer mit Eis überzog, aber keine Spur Schnee brachte, Kahlfrost, eine ebenso wenig wohlgelittene Spezies Stadtwinter. Ja, raunten die Älteren, stellt euch vor, liebe Kinder, es hat am Teufelsberg, mitten in Berlin, sogar mal einen Skilift und eine Sprungschanze gegeben, und alles wurde richtig benutzt! Gähn, antworteten die Kinder, noch nie was vom Klimawandel gehört, Opa? Kriegen wir jetzt die 100 Euro für den Skipass am Großglockner?

Und nun das. Draußen am Stadtrand soll es Straßen geben, auf denen Autofahrer die friedliche Koexistenz mit Skilangläufern üben, selbst wenn die weit ausschwingend in neumodischer Skatingtechnik herumstaksen statt sich traditionell dünn zu machen. In den Parkanlagen müssen wir mit rasenden Rodlern rechnen, wo sonst allenfalls die Fahrradplage Anlass zur Vorsicht bot, überall düst und gleitet es, und selbst die sonst so sicheren Bürgersteige ähneln Skipisten, seit sich die Räumdienste darauf beschränken, den gepressten Schnee schön glattzubürsten und oben ein paar Krümel draufzustreuen wie Salz aufs Frühstücksei.

Viele von uns stehen gegenwärtig frierend auf den Bahnsteigen, weil die S-Bahn ihren Job nicht auf die Reihe bekommt. Das ist ärgerlich, aber es hilft irgendwie, die Stimmung, die sonst angesichts der weißen Pracht allzu friedlich wäre, ein wenig aufzurauen. Da haben wir wenigstens etwas zu meckern, das macht das Dasein auf berlinische Art erträglich. Denn was wäre da sonst gerade?

Fast nur Gutes. „Die Stadt wird durch den Schnee heller, leiser, leerer und langsamer“, sagt die Direktorin der Psychiatrie an der Charité, Isabella Heuser. „Das entschleunigt und tut unserer Seele gut.“ Der alles überwölbende Eindruck dieser Tage ist nämlich die ganz unmetropolitane Ruhe. Der fluffige Schnee schluckt den nervenzerrenden Großstadtlärm, vor allem die Rollgeräusche der Autos, und auch die Fahrer selbst benehmen sich gelassener, verzichten auf Notbremsungen und Ampelrennen, obwohl das angesichts geräumter Hauptstraßen, zupackender Winterreifen und ausgefuchster Anti-Schleuder-Systeme technisch nicht einmal überall notwendig wäre.

Vor allem in den Außenbezirken, wo der Schnee dick auch auf den Fahrbahnen verharrt, breitet sich eine geradezu sonntägliche Ruhe aus, wo sonst geschäftiges Türenschlagen und Abfahren herrscht. Nur da und dort stören nutzlos orgelnde Anlasser, weil die Batterie auf den Winter nicht vorbereitet war. Viele Autos fahren gar nicht erst los, obwohl sie könnten, weil sie von festgebackenem Schnee rundum eingefriedet sind, weil ihre Besitzer ohnehin lieber die BVG nehmen oder aber gleich zu Hause bleiben.

Was nicht unbedingt sein muss, das unterbleibt – das trifft die Gastronomie, die Kinos und allerhand andere Vergnügsamkeiten. Eingekauft haben wir im vergangenen Jahr, um den Staat zu retten, ohnehin genug. Selbst das sonst so einträgliche Wohnungseinbrechen, weiß die Polizei, fällt flach bei solchen Wetterlagen, denn es hat ja auch wenig Aussicht auf Erfolg, wenn alle Leute zu Hause sitzen und bei Glotze und Schlummertrunk ihre Preziosen hüten. Es herrscht also, nimmt man leidende Geschäftsleute einmal aus, friedvolle Stimmung in der Stadt. Das liegt, wie die Psychiaterin betont, zum Teil schlicht an der weißen Farbe, mit der der Schnee alles Dunkel deckt. Er erleuchtet die grauen, sonnenarmen Tage und die sonst schwarzen Nächte, und damit auch unser Gemüt, eine Art natürliches Solarium ohne Krebsrisiko. Aus trübe funzelnden Gaslaternen macht er per schlichter Reflektion Vorstadtsonnen, und noch aus der letzten gut gemeinten Energiesparlampe presst er scheinbar unerlaubte Helligkeit. Und erst die Luft! Braunkohlenmief, wie er da und dort noch aus den Kachelöfen wabert, gewinnt vor klarer Schneeluft wie durch ein Wunder an Statur, ändert seinen Charakter von der Geruchsbelästigung zum Wintergewürz. Selbst die sonst so lästigen Hundehaufen werden aus physikalisch naheliegenden Gründen vom Schnee rasch verschluckt; dass sie spätestens beim nächsten Tauwetter wieder da sind, ist abzusehen – aber das ist der Schnee von morgen, nicht wahr?

Bis dahin bleibt zusammenzufassen, dass die dicke, weiße Decke, sofern sie nicht überhand nimmt und das gewohnte Leben zu sehr einschränkt, das Beste ist, was der Stadt passieren konnte. Sie bleibt noch eine Weile so, wächst womöglich ein Stück, und da ist es nicht vermessen, noch einen kleinen Wunsch zu äußern: Wäre es nicht schön, wenn über der ganzen Pracht jetzt noch ein blauer Winterhimmel sich wölbte, einer wie von einer Alpenpostkarte geklaut? Gefolgt von vielen funkelnd klaren Nächten? Wir Berliner sind anspruchsvoll. Wenn wir schon kein Geld haben, müssen wir eben in immaterielle Werte flüchten. Etwas Besseres als einen solchen Traumwinter werden wir dieses Jahr nicht finden. 

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false