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Berlin: Stadtportrait: Berlin, entgeistert (Gastommentar)

Seit einem Jahr bin ich Neu-Berliner - wie die Minister, Abgeordneten und Bundesbeamten. Aber noch immer wartet die Stadt mit Überraschungen auf.

Seit einem Jahr bin ich Neu-Berliner - wie die Minister, Abgeordneten und Bundesbeamten. Aber noch immer wartet die Stadt mit Überraschungen auf. In Polen ist die Armee dazu da, das Land vor äußeren Feinden zu schützen. Deutsche Rekruten müssen von der eigenen Polizei verteidigt werden. In Polen gilt noch heute das Sprichwort, dass die Mädels Uniformierten "in Scharen nachlaufen". Junge deutsche Frauen malen sich beim Anblick von Soldaten rot an und beschimpfen sie, teils im Eva-Kostüm, als "Mörder". Zwei Wochen zuvor versetzten sich dafür junge Männer mit Drogen und einer Mischung aus Red-Bull und Wodka in einen Rauschzustand, um mitzumarschieren - in der Love Parade: der modernen Variante uniformierter Marschkolonnen in der Berliner Republik. Diese Stimmung mag manchen Deutschen Probleme bereiten, einigen peinlich erscheinen. Dabei ist sie aber gar nicht so schlecht für ein Land, in dem in der Vergangenheit zu oft marschiert wurde, und die Militärs zu viel zu sagen hatten.

Ich gebe zu: Berlin gehörte nicht zu meinen Traumstädten, als ich vor einem knappen Jahr an die Spree zog. Für meinen journalistischen Ehrgeiz war die alte-neue Hauptstadt attraktiv. Was ich in den 80er Jahren im Ostteil kennen gelernt hatte, schreckte mich jedoch eher ab: der Stechschritt der NVA, die Begeisterung der Demonstranten am 1. Mai, die an der Ehrentribüne mit dem Genossen Erich vorbeiparadierten, der preußisch-kommunistische Ernst der Beamten. Das Denkmal Friedrich des Großen und der graue schwere Berliner Dom mit der Hohenzollern-Gruft ließen einen Polen an die Jahre der polnischen Teilungen und des Germanisierungsdrucks denken - und die Frage aufkommen: Warum war das Regieren am Rhein so schön? Je öfter bekräftigt wurde "Berlin ist nicht Weimar", desto eher weckte dies Misstrauen.

Doch nach einem Jahr kann ich meine Landsleute beruhigen. Der Regierungsstil hat sich wenig verändert, ebenso der Umgang mit den neuen Partnern jenseits der Ostgrenze. Manche Panne lässt die deutsche Politik menschlicher erscheinen - also sympathischer. Das Sommertheater 1999, bei dem sich die eigene Partei als der größte Stolperstein für Kanzler Schröder erwies, das kannte ich nur zu gut aus Warschau. Oder die Rentner, die auf die Barrikaden gehen, weil ihre Renten langsamer wachsen sollten - Mallorca nur einmal im Jahr statt zweimal, ganz schön hart! Hatten sich nicht die Deutschen 1980 empört, dass die "Solidarnosc" wegen Preiserhöhungen für Zigaretten den Streik ausrief?

Mein deutscher Hausmeister ist zwar immer noch so wachsam wie vor zehn oder 100 Jahren. Aber die deutsche Fußballmannschaft spielt so, als wollte sie mit der polnischen Nationalelf wetteifern, wer mehr Fans zum Gähnen bringt. Für die Radfahrer scheint es Ehrensache zu sein, die Obrigkeit und die Verkehrsregeln zu missachten. Mit heimlicher Genugtuung beobachte ich, dass selbst Bundestagsabgeordnete mit mir bei Rot über die Straße gehen. Mein jüngster Sohn spielt in einem Kindergarten nahe der Stelle, wo früher Hitlers Bunker stand. Der Ältere besucht die Schule, die Goebbels Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda verdrängt hat. Vor meinem Haus wird ein Denkmal für die ermordeten Juden gebaut. Die alten Geister gibt es nicht mehr.

Der Autor ist Deutschland-Korrespondent der polnischen Presseagentur "pap".

Jacek Lepiarz

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