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Unerwünschte Aufmerksamkeit - auch das bedeutet Stalking.

© Angelika Warmuth/pa-dpa

Stalking: Die Angst ist immer bei dir

Sie war lebhaft und herzlich – und seine Vorgesetzte. Er verliebte sich und begann, ihr aufzulauern. Der Mann ist einer von 114 Tätern, die Stop-Stalking, eine Beratungsstelle in Steglitz, 2015 betreut hat. Eine Langzeitreportage über Jäger und Gejagte.

Die Besucher geben sich mal als Mitglieder der russischen, mal als solche der italienischen Mafia aus. Die Nachricht, mit der sie Konstantin Fechner in seinem Geschäft belästigen, ist immer dieselbe: Wenn du deine Partnerin nicht verlässt, schlagen wir den Laden kurz und klein – und bringen dich um. Die Mafia vergesse nie.

Was nach einem Albtraum oder einem schlechten Film klingt, ist für Fechner Alltag. Der Mann, der ihm seit Jahren nachstellt, hat eine Vorliebe für absurde Szenarien, in die er sich immer weiter hineinsteigert. Wer von der Mafia bedroht werde, warnt er, sollte keine Kinder großziehen. Der Stalker hat Fechners Leben nach und nach in einen dauerhaften Ausnahmezustand verwandelt. An guten Tagen kann Konstantin Fechner darüber lachen. Doch die jahrelange Bedrohung geht an die Substanz.

Fechner ist Mitte 40, durchtrainiert, hat ein breites Kreuz und einen klaren Blick. Er sieht nicht aus wie jemand, der sich schnell Angst einjagen lässt. Kerzengerade sitzt er an einem sonnigen Nachmittag im Mai 2015 in der nüchtern möblierten Steglitzer Altbauwohnung, in der die Beratungsstelle Stop-Stalking untergebracht ist. Das einzige Angebot in Berlin, das auf Nachstellungen spezialisiert ist. Hierher ist er heute zum vierten Mal gekommen, um sich Unterstützung zu holen – quer durch die Stadt, die bedrohlich geworden ist für ihn.

Als er seine Partnerin kennenlernt, ist sie noch verheiratet

Fechners Partnerin wartet im Flur, die beiden haben später noch einen gemeinsamen Beratungstermin. Sie ist nicht glücklich darüber, dass er nun erst mal einer Journalistin von seinen Erfahrungen erzählt. Weil die beiden nicht wissen, welche Folgen das haben könnte: für ihr privates und berufliches Umfeld. Deshalb trägt Fechner in diesem Text einen anderen Namen als in Wirklichkeit, auch über seinen Beruf und den Stadtteil, in dem er lebt, will er keine Angaben lesen.

Als Fechner seine Partnerin kennenlernt, ist sie noch verheiratet. Die beiden verlieben sich, für ihn verlässt sie ihren Mann. Da sie ahnt, dass der ihre neue Beziehung nicht akzeptieren wird, will sie die Verbindung zunächst lieber geheim halten. „Doch er hat sie belagert und rausgekriegt, dass sie einen neuen Partner hat.“ Fechner hält es anfangs für verständlichen Trennungsschmerz, der den Ex weiterhin Kontakt zu seiner Freundin suchen lässt. Die Mails und Anrufe, die sie bekommt, findet er zunächst einfach nur anstrengend. Ein paar Wochen später hält er sie für Belästigung. Und bald schon rutscht er von der Beobachterposition in die Schusslinie, der Stalker konzentriert sich nun auf ihn. „Es ging darum, mich so massiv unter Druck zu setzen, dass ich die Beziehung beende.“

Neben der „Mafia“ schickt er ihm SMS und E-Mails, er lauert ihm vor der Haustür auf. Später bringt er Gerüchte in Umlauf, Fechner habe Kundinnen belästigt, sich an Kindern vergangen. Fechner hat Glück, in Form eines „relativ starken“ Umfelds, beruflich wie privat. Es hält von Anfang an zu ihm, schenkt den Gerüchten keinen Glauben. Und doch: „Irgendwann kreist der Kopf nur noch darum, sich zu verteidigen.“ Fechner aber will in seinem Leben Regie führen, ist vom Naturell her ein Macher, kein Getriebener. Dass einer wie er dem Kreislauf aus Tätigwerden, Erschöpfung und dem Gefühl, aus diesem Strudel überhaupt nicht herauszukommen, nicht mehr entgehen kann, zeigt etwas von der gesellschaftlichen Tragweite des Problems.

Der Begriff kommt aus der Jagdsprache

Der Begriff Stalking kommt aus der Jagdsprache und bedeutet übersetzt: heranpirschen oder anschleichen. Im englischen Sprachraum beschreibt er den Vorgang, dass ein Mensch einem anderen über einen längeren Zeitraum nachstellt, seit den 1990er Jahren. Seit 2004 steht das Wort für das beharrliche und belästigende Verfolgen einer Person im Duden. Die Jagd scheint für dieses Vorgehen die perfekte Metapher zu sein: weil sich der Täter jeder offenen Kommunikation verweigert, seinem Opfer jegliche Kontrolle nimmt. Wer sich ungerecht behandelt, zurückgewiesen, abserviert oder verspottet fühlt, kann so das Kräfteverhältnis umkehren. Nun, als Stalker, bestimmt er allein, wie lange er sich zurückhält und wann er wieder in Erscheinung tritt, ob er Nachrichten schickt oder sein Opfer auch körperlich bedrängt. Damit treibt er es vor sich her, manipuliert sein Zeitgefühl, kann es in Sicherheit wiegen oder schwer beunruhigen.

Laut einer Studie des „Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit“ werden in Deutschland knapp zwölf Prozent der Bevölkerung einmal in ihrem Leben gestalkt – 87 Prozent der befragten Opfer sind Frauen. Rund 25 000 Fälle werden jedes Jahr bundesweit angezeigt, die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Einer EU-weiten Befragung aus dem Jahr 2013 zufolge bringt nur jede vierte Frau eine Nachstellung zur Anzeige. Die Berliner Polizei hat 2014 insgesamt 1950 Fälle aufgenommen, 2015 waren es 1729. In drei von vier Fällen kennen sich Täter und Opfer. In jedem zweiten Fall waren sie liiert. Deutlich häufiger als aus dem Nichts entsteht also aus Nähe, Liebe gar, das, was alle Opfer in verschiedenen Ausprägungen empfinden: Angst.

„In der Beratung von Stalkingopfern geht es häufig um die Frage, wie man aus diesem Angstgefühl wieder herauskommt, wie man seine innere Stärke zurückgewinnt“, sagt Wolf Ortiz-Müller. Der Leiter der Beratungsstelle Stop-Stalking hat im großen Beratungszimmer Platz genommen, die Fenster lassen viel Licht in den Raum. Der schlanke Mittfünfziger wirkt entspannt, seine Stimme klingt beruhigend. Er hört aufmerksam zu und nimmt sich Zeit für seine Antworten. Je länger das Gespräch dauert, desto nachdenklicher wirkt er. Das Thema ist komplex, und die Rechtslage macht es den Opfern nicht leicht, sich zur Wehr zu setzen.

Erst seit 2007 ist Stalking in Deutschland strafbar

In Deutschland ist Stalking seit 2007 strafbar, fortwährende Nachstellungen können seitdem mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren geahndet werden. 2008 eröffnete in Berlin die Beratungsstelle Stop-Stalking, in der sich Täter und seit 2014 auch Opfer kostenfrei beraten lassen können. Neben Wolf Ortiz-Müller arbeiten dort noch zwei Männer und zwei Frauen mit englischen, russischen, polnischen, türkischen und spanischen Kultur- und Sprachkenntnissen, die in Psychotherapie, Psychologie, Pädagogik und Sozialpädagogik ausgebildet wurden. Gemeinsam versuchen sie, die Unzulänglichkeit des sogenannten Nachstellungsgesetzes (§238 StGB) auszugleichen. Dieses sieht die Beweislast beim Belagerten, zwingt ihn, nachzuweisen, dass der Stalker sein Leben „schwerwiegend beeinträchtigt“. Den Betroffenen wird geraten, zu Archivaren des Terrors zu werden, den sie am liebsten sofort vergessen würden, Fotos und Briefe aufzuheben, jede SMS, jeden Anruf zu notieren. Doch wer keine drastischen Konsequenzen zieht, weder den Job noch die Wohnung – oder gleich die Stadt – wechselt, weil er durch die Bedrohung sein bisheriges Leben nicht mehr fortsetzen kann, hat es schwer, die vom Gesetz für eine Verurteilung geforderte Massivität des Stalkings nachzuweisen. Die Folge: Nicht einmal zwei Prozent aller angezeigten Täter kommen vor Gericht. Was auch erklärt, weshalb viele Nachstellungen nicht angezeigt werden.

Berlin zu verlassen, das kommt für Konstantin Fechner und seine Partnerin zu keinem Zeitpunkt infrage. Beide fühlen sich hier verwurzelt, haben sich eine berufliche Existenz aufgebaut. Außerdem hätten die Kinder seiner Partnerin natürlich das Recht, ihren Vater regelmäßig zu sehen. Stattdessen setzt er sich mit juristischen Mitteln zur Wehr, geht zum Anwalt, zur Polizei, vor Gericht, macht Gebrauch vom sogenannten Gewaltschutzgesetz, das es dem Täter untersagt, sich ihm oder seiner Wohnung zu nähern oder in anderer Form Kontakt zu ihm aufzunehmen.

Um vom Gewaltschutzgesetz Gebrauch machen zu können, muss man nachweisen, dass eine Person den Körper, die Gesundheit oder Freiheit eines anderen Menschen vorsätzlich widerrechtlich verletzt hat. Die Arbeitsanweisung für den Gestalkten lautet auch hier: fotografieren, notieren und abspeichern. Auf jeden Verstoß folgt dann wieder der Gang zur Polizei und zum Amtsgericht. Deshalb kann Konstantin Fechner auch längst nicht mehr rekonstruieren, wie häufig er den Stalker angezeigt hat.

Man rät ihm, sich „zu vertragen“

Das alles kostet sehr viel Zeit und Nerven. Wenn sich Fechner polizeilich und juristisch gegen das Stalking zur Wehr setzt, macht er immer wieder dieselbe Erfahrung, wie er sagt: Die Taten werden als – vielleicht sogar verdiente – Folge eines Beziehungskonflikts interpretiert, den er mit ausgelöst habe. Man rät ihm, sich „zu vertragen“, als läge es nur an ihm, dass der andere mit den Bedrohungen aufhört. Dass er keine Kontrolle darüber hat, wie er von außen gesehen wird, macht dem Mittvierziger zunehmend zu schaffen.

Bei Stop-Stalking, wo sich Fechner und seine Partnerin seit 2014 beraten lassen, ist das anders. Auch, weil Wolf Ortiz-Müller und seine Mitarbeiter den Verfolgten neben Hilfe bei den juristischen Aspekten und den ganz praktischen Tipps, Telefonnummern und Profile in den sozialen Netzwerken zu blockieren, vor allem Kraft geben wollen. Viele Verfolgte leiden unter Schlafstörungen und Depressionen, manche werden von Suizidgedanken gequält. Das Ziel, die „vorherige Lebensqualität“ zurückzuerlangen, soll daher ganzheitlich angegangen werden.

Hier fühlt sich Konstantin Fechner endlich verstanden. „In den Gesprächen geht es nicht nur um das Stalking, sondern auch um die Konsequenzen, die sich daraus für unsere Familie ergeben.“ Eine unbeschwerte Zeit haben sie bislang noch nicht miteinander erlebt. Beide haben Kinder mit in die Beziehung gebracht, was die Situation noch komplizierter macht. Sie sei für alle Beteiligten schwer zu verkraften, sie habe Seelen beschädigt.

Dass in den Räumen, in denen er sich Rat holt, auch Stalker betreut werden, die anderen aufgelauert, sie gequält, physisch und psychisch bedrängt oder verletzt haben, findet Konstantin Fechner gut. „Für mich ist es wichtig, Probleme zu lösen.“ Er hat in den vergangenen Jahren öfter versucht, sich mit seinem Verfolger auszusprechen, um zur Ruhe zu kommen, allein schon der Kinder wegen. Vor denen er, wie er sagt, nicht schlecht über den Vater spricht. Er hat die Berater von Stop-Stalking von der Schweigepflicht entbunden und versucht, auf neutralem Terrain ein Treffen zu organisieren – ohne Erfolg. Dass er seit Januar 2015 nichts mehr von seinem Verfolger gehört hat, freut ihn natürlich. Erleichtert ist er trotzdem nicht. Denn es gab schon einige Phasen, in denen der in der Deckung geblieben ist.

Für Täter und deren Beratung bringen nicht alle so viel Verständnis auf wie Konstantin Fechner. In der Beratungsstelle von Stop-Stalking kennen sie die Fragen nur zu gut: Bekommen die Verfolger hier nicht viel zu viel Aufmerksamkeit? Und zu viele Möglichkeiten, ihr Handeln durch eine schwierige Biografie und private Probleme zu entschuldigen? Pathologisiert nicht der, der zu tiefgründig nach den Ursachen des Stalkings forscht, anstatt Stalker einfach hart zu bestrafen, ihr Handeln – und nimmt sie damit ein Stück weit aus der Verantwortung?

Auch die Täter sitzen in der Falle

„Stalking ist keine Krankheit“, sagt Wolf Ortiz-Müller entschieden, „aber eine Straftat, gegen die man etwas tun muss.“ Und für ihn sei nun einmal der beste Opferschutz, sich intensiv um die Täter zu kümmern. Denn: „Wenn die Stalker verstehen, welche lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Reaktionsmuster sie zu dieser Tat geführt haben, dann können sie für ihr Verhalten Verantwortung übernehmen.“ Er holt tief Luft. Dieser Satz ist für Ortiz-Müller und seine Kollegen der Kern ihrer Arbeit. Er nimmt der Metapher von den Jägern und Gejagten ihre Gültigkeit. Auch die Täter, die entweder aus eigenem Antrieb oder auf richterliche Anordnung hin hierherkommen, sitzen in der Falle und schaffen es nicht, sich allein aus ihr zu befreien. Sie müssten erst lernen, künftig anders mit Kränkungen und Zurückweisungen umzugehen. Bei Stop-Stalking können sie sich drei Treffen lang anonym unverbindlich beraten lassen. Danach unterschreiben sie einen Beratungsvertrag und verpflichten sich, regelmäßig zu den Terminen zu erscheinen.

Es dauert ein paar Monate, bis die Berater einen Stalker gefunden haben, der seine Geschichte erzählen will. In den Schaufenstern rund um das Rathaus Steglitz liegen inzwischen Tannenzweige und Lametta. Oben bei Stop-Stalking sitzt ein nervöser junger Mann, der in diesem Text Sven Ritter genannt werden möchte. Sein Berater Jochen Gladow ist bei dem Gespräch dabei. Die beiden gehen vertraut miteinander um. Es sieht ein bisschen so aus, als ob sich hier ein schüchterner Junge immer mal wieder mit seinem lässigen Onkel trifft und ihm sein Herz ausschüttet. Gladow lobt ihn dafür, dass er es zum Termin geschafft hat – weil er sich von seiner Chefin keine Überstunden hat aufbrummen lassen.

Ritter ist Ende 20, ziemlich schmal und hat ein sehr junges Gesicht. Er zittert, schaut abwechselnd auf seine Fußspitzen oder in die Luft, schiebt die Hände immer wieder hinter die Tasche, die er sich um den Bauch geschnallt hat. Seine Beine wippen pausenlos. Er durchläuft gerade seine zweite Beratungsrunde bei Stop-Stalking, heute ist seine 15. Sitzung, 20 muss er insgesamt besuchen.

Die erste Beratungsrunde hat er abgebrochen. Diesmal will er durchhalten: „Ich kämpfe mich durch die restlichen Sitzungen, aber dann ist Schluss mit dem Thema.“ Er wolle, sagt er, das alles vergessen. Alles.

Dass Ritter mit dem Stalken begonnen hat, liegt schon etliche Jahre zurück. Zu Beginn seiner Lehre verliebte er sich in seine Ausbilderin, eine auffallend lebhafte, herzliche und freundliche Frau, die sich engagiert und – so sagt er – viel zu offen um die Azubis kümmerte. „Ich fand sie attraktiv, nett, sie hatte ein gute Ausstrahlung, ich war richtig verknallt.“ Sie hilft ihm, als er Probleme mit den Hausaufgaben hat, zeigt ihm, wie wichtig es ihr ist, dass er einen guten Abschluss macht. Er schenkt ihr Süßigkeiten, privaten Kontakt haben die beiden nicht.

Während einer Klassenfahrt sei es zum Wendepunkt gekommen, den Sven Ritter so beschreibt: Als er am Abend mit mehreren Azubis zusammen war, habe sie sich für einen kurzen Moment auf seinen Schoß gesetzt. „Die Episode auf dem Berufsausflug hat ihn angetriggert, daraus hat sich eine Dynamik entwickelt“, sagt Jochen Gladow. Ritter fühlt sich ermutigt, noch stärker die Nähe seiner Traumfrau zu suchen. Mit ihr über seine Gefühle zu reden, das schafft er nicht. Er behält alles für sich, auch mit seinen Eltern, bei denen er lebt, spricht er nicht darüber, dass er sich verliebt hat und auf nichts anderes mehr konzentrieren kann.

Es geschah bei einer Klassenfahrt

Der blasse, hochaufgeschossene junge Mann taucht nun immer häufiger an der Bushaltestelle seiner Ausbilderin auf, manchmal steht er morgens vor ihrer Haustür. „Ich wollte wissen, wie sie ihren Alltag verbringt, was sie außerhalb der Berufsschule macht.“ Es klingt ehrlich, als sei die Neugierde die Hauptmotivation gewesen. Genauso offen gibt er zu, gesehen zu haben, dass sie sich vor ihm versteckte. Überhaupt fällt es schwer, sich Ritter beim Lügen vorzustellen. Sein Gesicht scheint jede Gefühlsregung, die er äußert, widerzuspiegeln: den Ekel, wenn er beschreibt, dass er das Stalken endlich hinter sich lassen will, die Gefühle für seine Ausbilderin, Wut und Traurigkeit darüber, dass er die Vergangenheit noch immer nicht abschütteln konnte.

Mit seiner oft sehr kindlichen Art macht er sich langsam in ihrem Leben breit. Manchmal versteckt er sich nach dem Unterricht hinter dem Vorhang, um sie zu beobachten. Als sie ihn dabei erwischt, schafft er es nicht, sich zu erklären. Stattdessen lacht er laut auf. Er bekommt eine Abmahnung, bald darauf schließt er die Ausbildung ab. Aber aus ihrem Leben zieht er sich danach nicht zurück.

Zu Stop-Stalking wird er auf Basis einer gerichtlichen Auflage geschickt, durch die ein Prozess vermieden werden soll. Jochen Gladow lernt ihn damals als unsicheren jungen Mann kennen, der nach dem Ende seiner Berufsausbildung große Zukunftsängste hat. Aber: „Er hat sich auf die Beratung eingelassen, war regelmäßig da und hat viel erzählt.“ In manchen Momenten sei er einsichtig gewesen. Vor allem aber habe er sich die ganze Zeit emotional nach wie vor stark mit seiner ehemaligen Ausbilderin verbunden gefühlt. „Zwei Themen standen im Vordergrund: die Ungerechtigkeit, die ihm aus seiner Sicht angetan wurde, und die Hoffnung, die Ausbilderin doch noch für sich zu gewinnen“, sagt Gladow. Ritter fühlt sich damals von der Ausbilderin missbraucht und hat große Schwierigkeiten, sich innerlich von ihr zu trennen und Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Er wünscht sich, die Lehrerin vor Gericht stellen zu können, sie für ihr aus seiner Sicht unverantwortliches Verhalten während der Klassenfahrt zur Verantwortung zu ziehen. Er muss mehrmals ansetzen, als er darüber spricht, so sehr regt ihn das Thema auf.

Er ist wütend über den Ausgang des Prozesses

Weil er weiterhin immer wieder morgens an der Bushaltestelle auf sie wartet, zeigt sie ihn schließlich wegen Stalkings an. Jochen Gladow schätzt, dass Ritter die Frau vielleicht 15-mal im Jahr verfolgt hat. Dadurch hat er sich in ihr Leben eingebrannt, jeden Ort, an dem sie ihn gesehen hat, mit Angst besetzt. Ihr überhaupt das Gefühl gegeben, nirgendwo mehr vor ihm sicher zu sein.

In der Verhandlung kommt Ritter auf die für ihn so wichtige Annäherung während der Klassenfahrt zu sprechen. Die Lehrerin leugnet die Episode. Das macht ihn, wie er jetzt erzählt, so wütend, dass er ihr auch nach dem Prozess weiter nachstellt. Er bekommt eine Bewährungsstrafe und die Auflage, weiterhin zu Stop-Stalking zu gehen. Doch dort taucht er nicht mehr auf, weil er so wütend über den Ausgang des Prozesses ist, ihm alles zu viel wird.

Er findet eine neue Stelle, stalkt fortan, wenn ihm sein Job im Einzelhandel mit sechs Arbeitstagen pro Woche Zeit dazu lässt. Seiner Mutter fällt auf, dass er auch an freien Tagen früh das Haus verlässt. Sie ahnt den Grund und bittet ihn, mit dem Nachstellen aufzuhören. Die Frau sei es nicht wert, und er mache sich dadurch sein Leben kaputt. Wieder taucht sein Gesicht im Leben seiner Ausbilderin auf, er nimmt dieselbe S-Bahn wie sie und schaut vom Nachbarwaggon aus in ihr Abteil. Sie zeigt ihn erneut an.

Es kommt zum zweiten Prozess – und plötzlich schafft es Ritter, so erzählt er, die Perspektive zu wechseln, sich nicht allein auf seine Wut zu konzentrieren. Er habe verstanden, dass er ihr Angst gemacht habe, sie sich nicht mehr ohne männliche Begleitung auf die Straße getraut und befürchtet habe, dass er irgendwann in ihrer Wohnung auftauche. Dass er sie damit so sehr eingeschüchtert habe, verwundert ihn aber bis heute.

Wie es zu diesem Wendepunkt kam, kann er nicht beschreiben. Vielleicht ist ihm klargeworden, dass das Stalking für ihn schwere juristische Konsequenzen haben kann. Vielleicht hat aber auch die erste Beratungsrunde bei Stop-Stalking nachgewirkt.

Wieder bekommt Ritter eine Bewährungsstrafe, und bald sitzt er Jochen Gladow erneut im Beratungszimmer gegenüber. Die Ausbilderin selbst hat sich gewünscht, dass er dort wieder Unterstützung bekommt. Denn nur, wenn es ihm besser geht, wird er künftig Abstand halten. „Sie will, dass der Spuk aufhört, dass ich ein normales Leben lebe“, sagt Ritter dazu. Und Jochen Gladow findet es gut, dass Sven Ritter noch einmal die Chance bekommen hat, sich mit dem eigenen Stalking auseinanderzusetzen.

Noch immer lebt er bei seiner Familie

Diese Form der Kontinuität in der Beratung ist nicht selbstverständlich. Anders als etwa in Bremen, wo nach Morden an zwei Stalkingopfern 2006 das sogenannte Stalking-KIT (Kriseninterventions-Team Stalking und häusliche Gewalt) gegründet wurde, das seine Arbeit aufnimmt, sobald ein Fall bekannt wird, beschränkt sich in Berlin die Interaktion zwischen Behörden und Beratern darauf, dass manche Täter von der Amtsanwaltschaft an Stop-Stalking verwiesen werden und bei Beratungsabbruch die Strafverfolgung wieder einsetzt. Wie es den Menschen nach abgeschlossener oder abgebrochener Beratung ergeht, erfahren die Berater nicht, wenn nicht gerade einer wie Sven Ritter aus einschlägigen Gründen wieder zu ihnen geschickt wird.

Ein halbes Jahr später trifft sich Ritter noch immer mit Jochen Gladow, zwei Sitzungen hat er noch vor sich. Ritter geht es gut, er hat einen Teilzeitjob gefunden, der ihm mehr Freizeit und Ruhe lässt als die vorherige Stelle. Weiter nachgedacht hat er auch, wie er am Telefon sagt: „Ich habe jetzt verstanden, dass ich die Ausbilderin nicht nur aus Verliebtheit, sondern auch aus Einsamkeit, Unsicherheit und Langeweile gestalkt habe.“ Ihm sei bewusst geworden, dass er Kontakte knüpfen sollte. „Es hat mir gutgetan, meine Seite der Geschichte bei Stop-Stalking erzählen zu können, und dass jemand mir zugehört hat.“ Ritter lebt weiterhin bei seiner Familie. „Ich verdiene nicht viel, und es macht keinen Sinn auszuziehen.“ Gerade macht er mit seinen Eltern Urlaub an der Ostsee. Er hofft, hier ein paar Bekanntschaften zu machen. Außerdem hat er sich auf Facebook angemeldet, um mehr Menschen kennenzulernen.

Auch Konstantin Fechner hat zu diesem Zeitpunkt Neuigkeiten: Sein Stalker wurde wegen früherer Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Fechner war Nebenkläger. Das Urteil ist ein Erfolg für ihn. Die Attacken des Stalkers sind nun 18 Monate lang ausgeblieben. Trotzdem hat er die Situation im Gerichtssaal traurig gefunden, er verspüre keinen Hass. Wie der Ausbilderin von Sven Ritter ist auch ihm vor allem wichtig, dass sein Verfolger ein normales Leben führen kann, damit auch in seines wieder Ruhe einkehrt. Deshalb findet er es gut, dass der sich in Behandlung begeben hat. „Ich denke einfach, dass er dringend Hilfe braucht. Es ist sicherlich kein schönes Leben, wenn man die ganze Zeit so unter Stress steht“, sagt Fechner. Ihm und seiner Partnerin geht es besser – zu Stop-Stalking gehen sie aber weiterhin. Richtig frei und unbeschwert fühlen sie sich noch nicht.

Dieser Text erschien zunächst in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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