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Berlin: Statt Lehre im Betrieb zurück auf die Schulbank

Immer weniger Firmen bilden aus, beklagt der Gewerkschaftsbund. Tausende Jugendliche hängen an Oberstufenzentren fest

Die Chancen für Jugendliche, nach der Schule ein selbstständiges Leben mit Job und eigenem Gehalt zu beginnen, sinken weiter. Nach aktuellen Daten der Arbeitsagenturen waren Ende Juli in Berlin und Brandenburg jeweils rund 800 betriebliche Ausbildungsverträge weniger unterschrieben worden als Ende Juli 2004. Damit sank die Zahl betrieblicher Lehrstellen in Berlin um 8,2 Prozent und in Brandenburg um zehn Prozent. „Das ist sozialer Sprengstoff für unsere Gesellschaft“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Bernd Rissmann.

Vor allem die stark angeschlagenen Betriebe der Baubranche könnten keinen Nachwuchs mehr schulen, sagte Rissmann. Erstmals seien zudem die Folgen der Gesundheitsreform bei Medizintechnikfirmen zu spüren: Weil immer weniger Menschen teuren Zahnersatz zahlen könnten, gerieten Dentallabors in Not und stellten nicht mehr ein. Auch kleine und mittlere Firmen, die Krankenhäuser beliefern, würden wegen der Einsparungen ums Überleben kämpfen und könnten sich keine Lehrlinge nicht mehr leisten. Ähnliches sei von der Rechtsanwaltskammer zu hören.

Zuwachs gebe es in der Tourismus- branche. Auch der Öffentliche Dienst stand 2004 trotz des Stellenabbaus mit seinen Ausbildungsplätzen gut da; dieses Jahr solle die Zahl erneut erhöht werden.

Besonders Besorgnis erregend ist für Rissmann die Tatsache, dass nur noch die Hälfte aller Lehrverhältnisse nach dem klassischen Prinzip der dualen Ausbildung funktionieren: Praxis im Betrieb, Theorie in der Berufsschule. Rund die Hälfte aller jungen Leute erlernen ihren Job heute in der vollschulischen Ausbildung. An den Berliner Oberstufenzentren (OSZ) lernen zehntausende Jugendliche einen Beruf überwiegend am Schreibtisch oder drehen Warteschleifen in berufsvorbereitenden Lehrgängen. „Das kommt den Steuerzahler teuer zu stehen, und die Chancen für die jungen Leute, später in einer Firma anzufangen, sind gering.“ Allein im Schuljahr 2003/04 seien 16 000 junge Berliner aus der Statistik der Lehrstellenbewerber herausgefallen, weil sie auf einem OSZ unterkamen.

Bei den Kammern hält sich die Unruhe anders als beim DGB in Grenzen. Zwar standen den 54 195 registrierten Bewerbern in Berlin und Brandenburg nach Angaben der Arbeitsagentur Ende Juli nur 16 275 betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung. „Erfahrungsgemäß schließt sich die Lücke aber zum Jahresende noch“, sagte Holger Lunau, Sprecher der Industrie- und Handelskammer (IHK). Bei deren Mitgliedsbetrieben gebe es sogar einen Zuwachs: Mit derzeit 5371 eingeworbenen betrieblichen Stellen liege man ein Prozent über der Zahl des Vorjahres, und auch die Zahl der Ausbildungsbetriebe sei um 235 auf 5156 gestiegen. Handwerkskammer-Geschäftsführer Ulrich Wiegand sagte, seine Branche liege wegen der frühen Sommerferien und veränderter Probefristen statistisch noch zurück. Zu Klagen über die angeblich große Zahl nicht ausbildungsfähiger Bewerber sagte Wiegand, in vielen Berufen seien die Anforderungen wegen neuer Richtlinien enorm gestiegen, „da können Jugendliche von der Qualifikation her gar nicht so schnell mitwachsen“. Bei der Arbeitsagentur hieß es dazu, von den nicht vermittelten Lehrstellenbewerbern hätten 41 Prozent „Kompetenzdefizite“. Sie bräuchten Unterstützung – beispielsweise in Deutsch oder wegen Verhaltensauffälligkeiten.

Annette Kögel

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