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Berlin: Stefan Lüdcke (Geb. 1948)

Gerecht sollte es zugehen, manchmal vielleicht etwas zu gerecht.

Einmal schleuderte er das Dreirad, auf dem er sonst artistische Übungen vollführte, mit Wucht durch die Terrassentür der Küche. Das Glas zersprang, der Schock war groß. Auch in der Schule gab es anfangs Probleme. Erst ein Wechsel an eine Waldorfschule mit handwerklich-künstlerischer Ausrichtung brachte ihn auf die Spur. Weich und flexibel wurde mit einem Mal der Schutzmantel aus passivem Widerstand, den er sich gegen zu hohen Druck zugelegt hatte. Dass er Handwerk und Phantasie zu kombinieren verstand, zeigten seine Kissenhöhlenlandschaften, die er als Kind jeden Sonntag in der Früh im Wohnzimmer errichtete.

Gewagte Statik auf der einen, artistisches Gleichgewicht auf der anderen Seite – so richtig mochte er sich nie entscheiden, ob er sesshaft werden oder alternativ leben wollte. Als Architektur-Student legte er sich eine französische Vélosolex zu, das legendäre schwarze Mofa mit Motor am Lenker. Um zu beweisen, dass Liebeskummer keine Frage von Zeit, sondern von gedrosselter Geschwindigkeit und hoher Fahrausdauer ist, zuckelte er wochenlang mit 30 Stundenkilometern durch Europa, bis er seine unglückliche Liebe vergessen hatte.

Mit dem Job im Architekturbüro war er bald unzufrieden. Die Fremdbestimmung machte ihm zu schaffen. Als er im Kiez von einem freien Sozialprojekt erfuhr, horchte er auf: arbeitslose Jugendliche von der Straße holen, ihnen eine Ausbildung und damit eine Zukunftschance geben – das fühlte sich besser an als Tag für Tag die Entwurfsideen seiner Chefs in Zeichnungen zu übersetzen. Ihm gefiel, dass die Verantwortung und Leitung des Projekts gemeinschaftlich aufgeteilt werden sollte. Man verstand sich als Kollektiv. So besann er sich auf sein erlerntes Handwerk und wurde Tischlermeister der AG Bethanien.

Die Hilfe zur Selbsthilfe bot er den Jugendlichen nicht umsonst. Seine Ansprüche waren hoch. Er selbst nahm sich da nicht aus, das spürten die Jugendlichen und rechneten es ihm hoch an. Er akzeptierte jeden, wie er war, ohne zu urteilen, ob in der Werkstatt oder im Privaten. In der Werkstatt verlangte er Pünktlichkeit, Sorgfalt und penible Einhaltung der Sicherheitsvorschriften. Im Gegenzug bot er jedem Vertrauen und ein offenes Ohr.

In seiner Familie verströmte er Wärme wie ein Bär. Seine Fürsorge für seine Frau, ihre Tochter und zwischenzeitig zwei Pflegekinder wurde allein von seiner Vorliebe für bunte Holzfällerhemden übertroffen. So steckte in ihm nicht nur ein Dompteur des Holzes, wie ein Freund einmal sagte, sondern auch ein Abenteurer, der sich mit Verve auf ein einjähriges Aussteigerdasein mit der Familie in Kalifornien einließ und es über Monate akribisch vorbereitete.

Gelegentlich schoss er mit seinem Gerechtigkeitssinn über das Ziel hinaus. Etwa wenn er für jeden in der Familie genau zugedachte Mengen Obst einkaufte und sich dann darüber ärgerte, dass seine Tochter mehr Äpfel aß, als vorgesehen, so viele eben, wie sie mochte. Um weiteren Missverständnissen vorzubeugen, beschriftete sie die Äpfel nach dem nächsten Einkauf mit den Namen.

Städtebauliche Brüche und Übergänge faszinierten ihn, wenn er auf dem Fahrrad mit umgehängter Kamera durch Berlin kurvte und nach Motiven Ausschau hielt. Freunden zeigte er die Stadt auf ausgedehnten Besichtigungstouren. Auf nachbarlichen Feiern im Haus konnte es passieren, dass er noch vor Ende des Abends einen Stapel Schnappschüsse herumreichte, die er eben mal bei sich zu Hause ausgedruckt hatte.

Lange hatten er und seine Frau Ausschau gehalten; mit einem alten, zunächst fast unbewohnbaren Haus im Oderbruch wurde ihr Traum Wirklichkeit. Viel Zeit, die Idylle gemeinsam zu genießen, blieb ihnen nicht. Er starb, ohne dass es ein Anzeichen von Krankheit gegeben hätte, mitten am helllichten Tag. Stephan Reisner

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