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Berlin: Steffen Heublein (Geb. 1964)

„Ich sitze hier am Hotelpool. Neben mir liegt eine Frau mit Nadeln im Rücken.“

Mozart. Auch so ein Mensch, der vom Ende her dachte.

Da der Tod, genau zu nehmen, der wahre Endzweck unseres Lebens ist, habe ich mich mit diesem wahren, festen Freund des Menschen seit ein paar Jahren so bekannt gemacht …

Christliche Erlösungslyrik, vom medizinischen Standpunkt betrachtet der reine Zynismus. Doch wer ihre Musik spielt, die von Mozart, Beethoven oder Bach, wird ohne religionsphilosophische Betrachtungen nicht auskommen. Für Steffen Heublein standen Medizin und Musik Seite an Seite in seinem Lebens- Universum und konnten voneinander nicht mehr lassen. 20 Jahre lang spielte er das Cello bei den „Musici Medici“.

Nun sind musizierende Ärzte an sich nichts Besonderes. Die meisten tun es zur geistigen Reinigung, am Sonntag, nach einer völlig unmusikalischen Klinikwoche. So war es bei Steffens Papa, einem Gynäkologen und Selten-zuHause-Vater, was seine abschreckende Wirkung nicht verfehlte. ICH WERDE NIEMALS KLINIKER! Ebenso apodiktisch schwor Steffen sich, niemals eine Arztpraxis zu eröffnen.

Nach dem Studium fuhr er Heizungen aus und chauffierte einen Kunstmaler zu seinen Ausstellungen. Dann reiste er nach Südamerika und ließ sich ein Jahr lang nicht blicken. Als Lebenszeichen gab es allenfalls ein Fax mit den Konturen seines fotokopierten Schädelprofils.

Nach 365 Tagen war das genau abgezählte Geld dahin, und Steffen stand in der Praxis eines Orchester-Freundes. Der wollte eine Ernährungsberatung aufziehen, hatte aber noch keine rechte Idee, wie und wo.

„Willst du das nicht machen?“

Steffen erkannte spontan, dass dieser Moment einer Berufung gleichkam und stürzte sich mit aller Kraft in die neue Aufgabe.

Zehn Jahre später hat er ein Netz von Beratungsstellen aufgebaut, leitet Fortbildungen für Ärzte, lässt sich von prominenten Dickleibigen als persönlicher Kalorienmanager engagieren und senkt den Daumen über magersüchtige Models in der RTL-Reality-Show „Die Akte.“ Dabei trägt er einen scheußlichen Arztkittel aus der Senderrequisite. Er hat keinen eigenen.

Zwischendurch ist er in China, um sich an der chinesischen Lebensweise zu versuchen und Akupunktur zu lernen. Er kauft ein Fahrrad, lässt sich vom chinesischen Coiffeur nach Art des Hauses frisieren, und hat bald seine erste Kundin.

Ein Anruf nach Berlin: „Ich sitze hier gerade am Hotelpool. Neben mir liegt eine Frau mit Nadeln im Rücken. Was machst du?“

Einer seiner Lieblingsfilme ist „Wild at Heart“, ein Roadmovie von David Lynch. Alles fließt, alles muss möglich sein, jederzeit, sofort, weil das Ende nah ist. Nur so kann Steffen leben.

Er fließt über vor originellen Ideen, kauft eine Nebelmaschine für die Party zum 44. Geburtstag, organisiert eine Lichtchoreografie für das nächste Musici-Medici-Konzert. Er will die „Metamorphosen“ von Richard Strauss spielen, unbedingt. Dazu stellt er ein Kammerorchester zusammen. Nach den Zusagen kommen die Absagen. Er zürnt und hadert, kann nicht verstehen, dass jemand sich Zwängen unterwirft. WARUM GEHT DAS JETZT NICHT MEHR? Er hasst es auch, wenn jemand unpünktlich ist. Für ihn ist das „eine Frage der Wichtigkeit.“

Es gibt eine Erklärung für seine Ungeduld. Mit 22 Jahren erfährt er von einem Herzklappenfehler. Bei einer Operation müsste das Herz kurz angehalten werden. Steffen will das nicht, eine Chirurgenhand an seinem Herzen.

Fortan dokumentiert er sein Leben, schießt Fotos, dreht Filme, holt das Vergangene immer wieder in die Gegenwart zurück, lädt Freunde ein zu inszenierten Musik-und Filmabenden.

Auch die Köpfe der Freunde sind voll von Erinnerungen an Steffen, ihre Sonne, um die sie kreisten. An die Zeit als Studenten, wie sie auf dem Campingplatz „Troja“ in Prag die Zeltnachbarn zur „Hygienekontrolle“ antreten ließen. Steffen versammelte die Musikerfreunde zu Jam-Sessions, ließ die Instrumente rotieren und wartete auf den einzigartigen, nicht reproduzierbaren musikalischen Glücksmoment. Als ihm im Konzert eine Saite seines Cellos riss, hörte er sich dieses anarchisch aus der Partitur tanzende „Pling“ immer wieder begeistert an.

In Bachs Matthäuspassion ist ihm die Gambe aufgefallen, ein störrisches, unbequemes Instrument. Steffen nimmt sich vor, die Gambensoli beim nächsten Konzert selbst zu übernehmen. Er engagiert eine Lehrerin, übt jeden Tag zweimal. Die Lehrerin zweifelt, Steffen ist voller Euphorie. Das Konzert wird ein Erfolg, hervorgehoben von der Kritik: die Gambensoli.

Danach gibt Steffen das störrische Instrument zurück. Es ist nur geliehen.

Led Zeppelin ist von Gambensoli ungefähr so weit entfernt wie Reykjavik vom Mond, und doch findet beides Platz in Steffens maladem Herzen. Am Flughafen Helsinki, ein Zwischenstopp, trifft er durch Zufall sein Idol, Robert Plant, den Frontmann von Led Zeppelin. Dieser Kreuzungspunkt zweier Lebenslinien ist auf dem Mousepad an Steffens Computer verewigt.

Die Plattensammlung behält er, seine Bücher gibt er weg, bis auf ein kleines Handmagazin. Ballast abwerfen. Den schönen Audi A 6, den er jahrelang fast bewohnt hat, verkauft er und fühlt sich angenehm erleichtert. Jetzt ist wieder Platz für Neues. Dieses Gefühl macht ihn glücklich und beweist seinen Ernährungsberatungskunden, dass Abnehmen möglich ist.

Er spürt, dass es wieder Zeit ist, das gewohnte Leben abzustreifen. Er will nach Australien gehen, mit Frau und Kind im Wohnmobil herumreisen. Ein Jahr gibt er sich, um zu planen und ausgiebig Abschied zu nehmen von Berlin und seinen Bildern. Er fotografiert noch intensiver das scheinbar Alltägliche. Er wird ruhiger, versöhnlicher, glaubt wieder daran, länger zu leben, als er bisher dachte.

Bei den Proben zum Weihnachtskonzert der Medici Musici bricht das Cellospiel plötzlich ab. Thomas Loy

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