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STELLEN anzeige: Seite 142

An jeder Ecke sieht man Menschen,die in Büchern lesen. Andreas Merkelfragt sie, was darin gerade passiert

An einem Dienstagnachmittag Ende Juli – den ganzen bisherigen Tag mit sämtlichen Feuilletoninterpretationen des Manifests „2083“ beschäftigt, vor lauter Selbstbeobachtung schon ganz blass – stoße ich beim Radfahren auf einen neuen Leser.

Die Frau sitzt auf einer Bank in der Sonne der Grünanlage, die man entlang der Schnellstraße hinter einem Lärmschutzwall irgendwo zwischen Adlershof und Köpenick angelegt hat. Auch sie ist mit dem Rad unterwegs und trägt runde Kinderschuhe für Erwachsene, die sich weniger für Mode, mehr für Gesundheit interessieren. Als ich sie frage, zögert sie kurz, aber auf die neutrale, nicht unangenehme Weise von jemandem, der sich die Zeit, die er braucht, um über etwas nachzudenken, auch nimmt. Dann stimmt sie zu. Ich sage ihr, dass ich das Foto so mache, dass sie darauf gar nicht richtig zu erkennen ist. Sie lacht und legt noch ihre Jacke anders hin, damit die nicht aufs Bild kommt.

„Wie erhält man Wunderheilung“ ist der Titel ihres Buches, geschrieben von T. L. Osborn. Als ich sie nach dem gerade gelesenen Satz frage, sucht sie auf der Seite 142 einen für mich aus: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“ Sie liest ihn nicht vor, sondern zeigt ihn mir nur. Zum Abschied wünschen wir uns einen schönen Tag.

Im Weiterfahren versuche ich, mich über die christliche Botschaft zu freuen. Aber ich muss auch weiter über den Horror der Feuilletonredakteure nachdenken, tausendfünfhundert Seiten innerhalb von zwei Tagen zu lesen und dann ihre verschlungenen Überlegtheiten mit einem lakonischen Satz abzuschließen, der alles wiedergutmachen soll, während draußen der Kaffee kalt wird.

Und ich merke, wie ich in einen absoluten Interpretationsmodus geraten bin (und verwerflicherweise nicht mal diesen einen Satz so stehen lassen kann), weil ich plötzlich denke, dass die christliche Sachbuchleserin in ihrer Sonne im Park noch verlorener ist als Breivik, wie wir alle.

Dann kommen mir zwei Türken auf ihren BMX-Rädern entgegengerast, der größere, dickere weicht erst im letzten Augenblick aus und macht ein Flugzeuggeräusch, damit ich kapiere, es war nur Spaß.

Andreas Merkel

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