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Berlin: Stellenpool Verwandtschaft

Berlins fleißige Türken: Viele Geschäfte haben rund um die Uhr offen. Das funktioniert nur als Familienbetrieb

DER TÜRKISCHE MINISTERPRÄSIDENT ERDOGAN BESUCHT SEINE LANDSLEUTE IN BERLIN

Murat Burman braucht zwar nur 20 Sekunden für den Bau eines Döners, aber im Moment hat er keine Zeit, über die 38-Stunden-Woche oder sich als einen von Tausenden fleißigen Berliner Türken zu sinnieren. „Gehen Sie zum Chef“, sagt er und deutet Richtung Spielautomat, im hinteren Teil des durchgehend geöffneten „Yorck Imbiss“. Birol Yagci, der Chef, repariert gerade den Automaten und schickt einen wieder zurück zu Murat: „Fragen Sie ihn. Er ist der Fleißigste.“

Sie sind beide zu beschäftigt, aber eine Kundin hilft weiter: „Schreiben Sie, dass es hier den besten Döner von Berlin gibt!“, sagt sie. Dann hat Murat alle Hungrigen versorgt und einen Moment Zeit. Er arbeitet erst seit ein paar Wochen hier, das Arbeitsklima sei „bombastisch“, das Geld reiche zum Leben. „Ob Urlaub drin ist, werde ich später sehen.“ Murat ist 28 und mit seiner Frau aus Frankfurt am Main nach Berlin gezogen, weil sie nur hier eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Assistentin machen kann. „In Frankfurt war ich Geschäftsführer im Restaurant meines Bruders. Hier bin ich nur Arbeiter“, erzählt Murat. Den Job hat er nach langer Suche per Zeitungsannonce gefunden – damit ist er besser dran als viele andere: Etwa 40 Prozent der Berliner Türken sind arbeitslos oder bekommen Sozialhilfe. Allmählich hat er sich die Arbeitszeiten antrainiert: montags bis donnerstags von 10 bis 20 Uhr, freitags und sonnabends Spätschicht von 20 bis 6 Uhr. „Das geht. Müde war ich nur am Anfang.“

Birol Yagci, der Chef, hat ausgerechnet, dass er im Durchschnitt 60 Stunden pro Woche im Imbiss verbringt. Meist kommt er zur morgendlichen Saure-Gurken-Zeit in den Laden, also zwischen fünf und sechs Uhr. Zwei Mitarbeiter hat er. Wenn einer krank wird, greift der Chef auf den Stellenpool Verwandtschaft zurück. Ein dritter Angestellter lohnt nicht. „Wenn ich jemanden brauche, frage ich die Lieferanten, setze eine Anzeige in die Zeitung oder klebe einen Zettel ins Fenster“, sagt der Chef. Nachwuchssorgen hat er nicht, auch mit Finanz- und Gesundheitsämtern „bin ich im Reinen: Die lassen mich in Ruhe, und ich lasse die in Ruhe“. 2,50 Euro kostet der Döner bei ihm. Zu schaffen macht ihm die Konkurrenz, die Döner für 99 Cent verschleudert. Ohne die würde ein Döner mindestens drei Euro kosten. Und der Chef hätte keine 60-Stunden-Woche.

Ein paar Querstraßen weiter bedient Banu Sürücü fröhlich ihre Kunden in der „Schwarzen Olive“. Das Lächeln der 41-Jährigen sieht ziemlich frisch aus dafür, dass sie den Feinkostladen allein mit Mustafa, ihrem Mann, montags bis freitags von 8 bis 20 Uhr und sonnabends bis 16 Uhr bewirtschaftet. Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechte, Tarifverträge – nichts davon betrifft sie. Nur Fleiß zählt. „Wenn wir Mitarbeiter suchen, schauen wir erst mal bei unseren Freunden“, erzählt sie, während sie hausgemachte Schafskäsesalate einpackt. Die Sürücüs suchen aber keine Mitarbeiter – im Gegenteil: Den einzigen, den sie hatten, haben sie sich sparen müssen. Jetzt wirft der Laden gerade genug für sechs Wochen Jahresurlaub bei der türkischen Verwandtschaft ab. Sonst fehlt zum Geld ausgeben ohnehin die Zeit.

Mustafa macht gerade Mittagsruhe, weil er morgens um drei aufstehen und auf dem Fruchthof einkaufen muss. „Wir sind glücklich hier“, sagt Banu. Vor zwei Jahren hat sie bei der Industrie- und Handelskammer ihren Ausbilderschein gemacht. Wenn sie sich einen Lehrling leisten könnte, wäre ihr ein Türke oder eine Türkin am liebsten. „Aber mit guten Deutschkenntnissen. Unser Publikum ist sehr gemischt. Ältere Türken fühlen sich in ihrer Muttersprache wohler.“ Wenn Banu die Zeugnisse türkischer Schüler sieht, bekommt sie oft Angst wegen der schlechten Zensuren. Um ihre eigenen Töchter, 13 und 15 Jahre alt, macht sie sich weniger Sorgen. „Die wollen dauernd was anderes werden. Hoffentlich können sie studieren.“ Die Kinder sollen mit dem Laden, den die Eltern vor zwölf Jahren von Tante und Onkel übernahmen, nichts zu tun haben. „Das möchte ich nicht. Die Arbeit hier ist zu schwer.“

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