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Oranienburger Straße: Straßenkampf im Ausgehkiez - vor fünf Jahren

Vor fünf Jahren priesen Reiseführer die Oranienburger Straße als ein Stück unverfälschtes Berlin an. Doch der Charme des Unfertigen und des Besonderen war längst bedroht – durch kommerzielle Verödung. Was Eva Kalwa darüber schrieb.

Glasscherben, Flaschenverschlüsse, Zigarettenkippen und ein übler Geruch nach Bier und Urin. „I love Berlin!“, raunt eine Sonnenbrillenträgerin begeistert der anderen zu. Staunend blicken die jungen Kanadierinnen die löchrige, graffitibemalte Fassade am Kunsthaus Tacheles hinauf. Sie richten ihre Digitalkameras auf die Wunden, die der 100 Jahre alten Kaufhaus-Ruine von Zeit und Menschenhand zugefügt wurden, als würden sie ein vom Aussterben bedrohtes Tier im Zoo ablichten. Dann gehen die Kunst- und die Soziologiestudentin rasch weiter. Sie wollen an diesem Nachmittag noch das rund 200 Meter entfernte Ausstellungsforum C/O Berlin im denkmalgeschützten Postfuhramt besuchen. Und folgen damit genau dem Programm, das ihnen ihr Reiseführer für den Besuch auf der Oranienburger Straße als „ein Stück unverfälschtes, kreatives Berlin“ empfiehlt.

Rund 400 000 Besucher jährlich begeben sich im 1990 besetzten Tacheles auf die Suche nach Spuren der Pionierstimmung der Nachwendezeit. Und fast 200 000 Touristen und Kunstinteressierte sahen sich 2009 eine der großen Foto-Ausstellungen im Postfuhramt an, wo derzeit ein Querschnitt durch die Geschichte der Magnum-Agentur gezeigt wird. So unterschiedlich die beiden Publikumsmagneten auch sein mögen – abgewrackt und sich Neuem nur störrisch öffnend das eine, bescheiden saniert und gegenwartsorientiert das andere –, haben beide eins gemeinsam: Sie stehen vor dem Aus. Dem insolventen Betreiber Tacheles e. V. und angegliederten Nutzergruppen droht durch den Gläubiger des Eigentümers, die HSH Nordbank, die Räumung. Und dem C/O Berlin wurde kürzlich vom neuen Eigentümer des Postfuhramts, der israelischen Elad Group, gekündigt. Bereits im April 2011 soll hier nach fünf Jahren Erfolgsgeschichte Schluss sein und die Kunst einem 14-stöckigen Hotel und einem Einkaufszentrum Platz machen.

Wie viel „Unverfälschtheit und Kreativität“ heute tatsächlich noch im Tacheles steckt, für dessen Erhalt sich der Berliner Senat stark macht, darüber scheiden sich die Geister. Viele Künstler und Kunstinteressierte, die einst regelmäßig kamen, bleiben der Ruine seit Jahren fern. Abgeschreckt vom Party-Image, das sich das Haus, dessen zwei Hauptnutzergruppen juristisch und persönlich tief zerstritten sind, vor allem selbst geschaffen hat: Schon lange finden im „Goldenen Saal“ keine eigenen Theaterinszenierungen mehr statt. Dafür ist beim Pub-Crawling, den organisierten Trinktouren durch die Kneipen, das Café Zapata im Erdgeschoss die erste Ansaufstation. So wirkt Tacheles trotz seiner 30 Künstlerateliers wie ein vernachlässigtes Museumsstück, das hauptsächlich von seiner Vergangenheit zehrt. „Man muss hinter dieses Image blicken, um die künstlerische Energie zu entdecken“, widerspricht der Künstler Roman Kroke. Und erst wer das getan habe, wisse, was hier eventuell unwiederbringlich zerstört werde. Der 36-Jährige hat seit zwei Jahren sein Atelier im vierten Stock und zeigt dort zwei Ausstellungen über den Holocaust, für die er mit Berliner und internationalen Schulen und Universitäten zusammenarbeitet.

Der Fall C/O Berlin liegt für die meisten klarer. „In dem historisch wertvollen Gebäude ist viel hervorragende Kulturarbeit von überregionaler Bedeutung geleistet worden. Das dürfen wir für eine weitere elende gesichtslose Amüsiermeile in der Stadt keinesfalls hergeben“, sagt Monika Grütters, CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Kulturausschusses im Parlament. Die 48-Jährige warnt vor Verödung und Trivialisierung solcher fest im Stadtgedächtnis verankerter Orte. „Man muss alles daransetzen, den neuen Investor zu einer kulturgebundenen Nutzung zu bewegen“, so Grütters. Dies sei nicht Sache des zuständigen Bezirks Mitte, sondern eine dringliche Aufgabe für den Senat.

Wer wissen will, was die Stadt verliert, wenn Kommerz komplett vor Kultur rangiert, muss sich auf dem Rest der Oranienburger Straße umsehen: gesichtslose, auf Massenabfertigung ausgerichtete Restaurants und Cocktailbars, deren Betreiber bei Monatsmieten von 30 000 Euro häufig wechseln. Ein großer Parkplatz, verglaste Büroetagen und Bankautomaten. Jenseits der goldenen Kuppel der Neuen Synagoge, auf Höhe des von Grillschwaden vernebelten Monbijouparks, Boutiquen und Schuhgeschäfte, noch mehr Restaurants und noch mehr Bankautomaten. Die werden vor allem genutzt, wenn es dunkel wird auf der „geilen Meile”, wie die Oranienburger Straße schon in den Zwanzigern hieß. Dann, wenn die geführten Sauftouren direkt vor dem C/O Berlin starten und Junggesellenabschiede in der Tabledance-Bar „Gold” landen. Und wenn sich die ausschließlich deutschen Prostituierten in schwarzen Miedern und hohen Pumps zur voyeuristischen Freude der Touristen in Positur stellen.

Dass es hier vor 20 Jahren ganz anders aussah, erzählen alle, die nach der Wende auf der Suche nach Freiheit und billigen Mieten in das von der DDR-Regierung vernachlässigte Viertel mit den überwiegend unsanierten Häusern zogen. Diese standen damals entweder leer oder wurden hauptsächlich von Alten und Arbeitslosen bewohnt, die von den jungen Wilden nach und nach verdrängt wurden, erinnert sich Hannes Heinrich. Als einer der wenigen von damals ist er geblieben. Dank eines moderaten Pachtvertrages über 25 Jahre betreibt er einige Meter von der Oranienburger entfernt noch immer die Kneipe „Zosch“ in der Tucholskystraße. Auf dem nach wie vor unsanierten und efeuberankten Haus prangt der Spruch „Spekulieren auf eigene Gefahr”.

Von einer „schönen, intensiven Zeit“ sprechen sie aber alle: Heinrich genauso wie der heutige Stadtsoziologe und damalige Gelegenheitskneipier Andrej Holm. Und auch Udo Rehm, der zwischen 1992 und 2002 mit zwei Freunden die Szenekneipe „Obst und Gemüse“ gegenüber dem Tacheles betrieb. Mit Wärme und einem Hauch Wehmut erinnern sich die urbanen Glücksritter von einst an das Provisorische, Unperfekte und die Aufbruchstimmung dieser Nachwendejahre.

Und trotz ihres Bemühens, der Nostalgie nicht zu viel Raum zu gewähren, sind sie sich in einem ebenfalls einig: Die Oranienburger sei schon immer eine Straße mit einem ganz besonderen Flair gewesen. Würden Tacheles und C/O Berlin fehlen, blieben die großen Besucherströme weg und die allein auf sie und nicht auf die Anwohner ausgerichteten Restaurants und Bars am Ende leer. Keine neuen Shopping-Malls und Luxuswohnungen könnten das wettmachen. Man muss kein Pessimist sein, um solche Visionen ernst zu nehmen.

Der Beitrag erscheint in unserer Rubrik "Vor fünf Jahren"

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