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Straßenkinder: Schnorren nach der Schule

Julia ist 17 und lebt wie einst Christiane F. auf der Straße. Doch inzwischen gibt es nicht nur die Kinder vom Bahnhof Zoo, sondern auch die Kids vom Alex. Geändert hat sich für die Straßenkids dennoch nicht viel: Fast alle haben eine traurige Geschichte.

Das nasse Pflaster vor dem Zoo-Palast schimmert wie der Rücken einer Schildkröte. Der feuchtkalte Ostwind zieht durch jeden Kleidungsspalt bis auf die Haut. Kein Wetter, um sich beim Schnorren hinzusetzen. Julia* steht an der Treppe des U-Bahn-Ausganges. Sie hält den vorbei eilenden Passanten einen zerknitterten Pappbecher hin. Ihre Abhängigkeit vom Wohlwollen einiger Menschen, die ein paar Cent in ihren Becher werfen, empfindet die 17-Jährige als Freiheit. „So zu leben ist immer noch besser als bei meiner Mutter zu sein.“

Julia ist eines von etwa 2500 Straßenkindern in Deutschland. Vor genau 30 Jahren lenkte das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ der Drogenabhängigen Christiane F. erstmals die öffentliche Aufmerksamkeit auf die gestrandeten Jugendlichen. Damals wie heute ist Berlin die Hauptstadt der Straßenkids.

Julias Leben als Berliner Straßenkind begann im Sommer 2006. Sie war weggelaufen – nach einem heftigen Streit mit ihrer Mutter. Einen richtigen Anlass hatte es dafür nicht gegeben. Sie konnte vielmehr den Dauerstreit nicht mehr ertragen. Sie tauschte ihr Kinderzimmer im Elternhaus, das in einem tristen Brandenburger Dorf steht, gegen den Rinnstein am Alexanderplatz: dem heute größten Treffpunkt der Straßenkinder-Szene. Im Gepäck nur ein kleiner Rucksack. Julia suchte das, wovon viele Straßenkinder anfangs verklärt träumen: die Unabhängigkeit in der Großstadt.

Julia zündet sich eine selbst gedrehte Zigarette an, nimmt sie zwischen ihre von der Kälte bläulich angelaufenen Finger. Sie tätschelt ihre schwarze Hündin Lyca, „mein Wauwau, mein Wauwau“. Dann küsst sie das Tier auf die Schnauze und steckt ihm die Zunge ins Maul. Eine Passantin blickt angewidert weg. Julia lacht hämisch. „Für mich ist der Hund ein Familienersatz.“ Ihre Mutter vermisse sie nicht, sagt sie. „Menschen wie ich haben nicht in ihr Wertesystem gepasst“, sagt Julia über sie. Ihre Vorliebe zu Punk-Musik, Biertrinken, Abhängen mit älteren Freunden: all das hätte ihre Mutter ständig kritisiert. Vielleicht aus Panik um Julias Zukunft. Ihre Mutter selbst ist arbeitslos.

Unpassend für das Leben auf dem Land sei auch ihr Kleidungsstil gewesen. An Julias dünnem Körper schlackert eine schwarze Lederjacke, darunter trägt sie ein T-Shirt mit durchgestrichenem Hakenkreuz. Ihre Haare sind auf der rechten Seite kurz geschoren, von der linken Seite hängen rosagefärbte Strähnen in ihr Gesicht. Der Punk-Stil ist der Dress- Code vieler Straßenkids. Enge Jeans und hohe Lederstiefel, wie sie Christiane F. trug, sieht man heute dagegen nur noch in den Szene-Bars von Mitte.

Julia wirkt selbstbewusst, sie redet laut. Wenn es aber um ihre Vergangenheit geht, will sie nicht viel preisgeben. Woran ihr Vater gestorben sei, als sie Neun war, wisse sie nicht. Ja, es habe noch mehr Auslöser als Streit gegeben. Ob sie geschlagen worden sei oder sexuell missbraucht, will sie nicht sagen.

Unruhig wechselt sie das Thema. Brüstet sich lieber mit dem, was sie auf der Straße treibt. Sie erzählt von Trinkgelagen am Alex. Bierflaschen leeren um elf Uhr morgens. Danach betrunken durch die Straßen ziehen, Passanten ärgern. Oder im neuen Einkaufszentrum Alexa vom Geländer in die Menge spucken und Hausverbot bekommen. Julia will provozieren. Aufmerksamkeit ist immer gut.

Früher hat Julia im Volleyballverein gespielt. Sie war gut. Heute heißt ihr Sport Prügeln. Ihre Gegner sind beispielsweise rumänische Frauen, die auf dem „Breiti“, dem Breitscheidplatz, betteln. Punks und Rumänen sind dort Rivalen. Seit dem EU-Beitritt seien es besonders viele geworden. „Die Zigeuner treten mich oder meinen Hund, da trete ich zurück“, sagt Julia. Zum Image der Punks als gegen Kämpfer gegen Ausländerfeindlichkeit mag dieser Satz nicht so ganz passen.

Sie schlägt nicht nur zu, um ihr Schnorr-Revier zu verteidigen. Einmal auf dem Alex habe sie zusammen mit Kumpels Jugendliche verprügelt, die HipHop-Musik hören. „Die haben so ein prolliges Auftreten und hören frauenfeindliche Texte“, sagt Julia. Die von ihr eingeforderte Toleranz scheint gegenüber anderen nicht zu gelten. Danach bekam sie ihre erste Anzeige wegen Körperverletzung. Mittlerweile sind es zwölf. Der Großteil der Straßenkids hat einen Eintrag im Polizeiregister. „Das Leben hier macht dich aggressiv“, sagt Julia.

Eine kleine Frau mit roter Stoppelfrisur löst sich aus dem Menschenstrom. Sie bleibt bei Julia stehen. Ines Fornaçon ist Streetworkerin bei der Hilfsorganisation Off Road Kids. Die Stiftung kümmert sich deutschlandweit um Straßenkinder. Bis zu 35 Jugendliche betreuen Ines und ihre drei Kollegen vom Berliner Büro pro Monat. Sie helfen unter anderem, den Kids je nach Alter die Rückkehr in die Familie oder in die Jugendhilfe zu vermitteln. „Die Straße ist keine gute Kinderstube“, sagt die Sozialarbeiterin.

Ines begrüßt Julia mit einem Lächeln, fragt vorsichtig, warum sie heute nicht in der Schule war. Seit drei Monaten geht Julia wieder in eine Realschule. Die zehnte Klasse musste sie wiederholen. Die Entscheidung zum Lernen traf Julia nicht wirklich freiwillig – das war eine Auflage des Jugendamtes. Ines ist froh darüber. Nur so bekommt Julia eine Chance auf eine Wohnung, in der sich eine Sozialarbeiterin um sie kümmert. Auf Behördendeutsch heißt das BEW, betreutes Einzelwohnen.

„Heute konnte ich nicht, ich musste zum Jugendamt“, antwortet das Mädchen. Sie benutzt keine Ausrede. Denn mittlerweile geht Julia gern zur Schule, Mathe sei ihr Lieblingsfach. Die Behördentermine sind aber vormittags. Heute musste das Amt mitteilen, dass der Antrag auf BEW in Brandenburg noch nicht durch ist. Dahinter steckt ein Problem, das viele Straßenkinder betrifft: Weil die Jugendlichen noch minderjährig sind, kann nur das Jugendamt aus der Region Entscheidungen treffen, in dem die Erziehungsberechtigten wohnen. „Wenn die Kids nach Berlin abdampfen, stellen sich die Landkreise oft quer“, sagt Ines. Die Ämter in anderen Bundesländern gäben ihren Etat nur ungern in Berlin aus. „Aber wir wollen auch nicht die Landflucht von Ausreißern fördern“, sagt sie. Deshalb fahren die Streetworker gemeinsam mit den Kids in ihre Heimatregion und sprechen mit Eltern und Jugendamt. Meistens gelinge es, die Ausreißer wieder in der Heimat unterzubringen. Weil aber Julia auf keinen Fall zurück will, vermutet Ines, dass ihr Fall bis zum 18. Geburtstag hinausgezögert wird – denn mit der Volljährigkeit ist Berlin zuständig.

Julia blickt hilflos, sagt dann im hasserfülltem Ton: „Ich habe manchmal das Gefühl, das Jugendamt will mich auf der Straße verrecken lassen.“ Ines beschwichtigt. Sie erkennt darin ein Problem für die Jugendlichen: „Julia muss sich immer von anderen abhängig machen“, sagt die Streetworkerin. Julia sei abhängig von Punks, die sie in besetzten Häusern schlafen lassen. Angewiesen auf ehemalige Straßenkinder. Oder eben von Männern. Zurzeit wohnt Julia bei Matthias, ihrem Freund. 28 Jahre alt und arbeitslos. Sie hat ihn auf der Straße kennen gelernt. Beim Abhängen auf dem Breitscheidplatz.

Ines' Handy klingelt. Eines „ihrer Kinder“, wie sie ihre Betreuungsfälle nennt, ist dran. Ob sie zum Alex kommen könne? Die meisten der Straßenkinder kommunizieren heutzutage per Handy. Oder via Internet. „Diese Chaträume können gefährlich sein“, sagt Ines. Einmal hat die Streetworkerin auf dem Alex drei junge Mädchen aus Dortmund aufgegabelt. Sie hatten sich online mit Punks verabredet. Für ein Straßenabenteuer. „Die habe ich ganz schnell wieder nach Hause geschickt“, sagt Ines. Sie verabschiedet sich von Julia, geht zur U-Bahn.

Ein paar Minuten später tönt ein „Hey Schatz“ rüber zu Julia. Ein kleiner Mann mit blauer Bomberjacke kommt auf sie zu. Auf dem Kopf trägt er ein rotes Barett. Er küsst sie innig, muss seinen Kopf dabei nach oben strecken. Es ist Matthias. Er holt Julia vom Schnorren ab. Normalerweise bilden sie ein Team, heute musste er ins Jobcenter. Fragen, ob sich eine Stelle ergeben hat. Für ihn war nichts dabei. Sie leben gemeinsam in einer Zweizimmer-Sozialwohnung. Er bekommt Arbeitslosengeld, Julia Kindergeld. Zum Leben reicht das für die beiden nicht. Auch Matthias war Straßenkind. „Deshalb kann ich mich gut in Julia hineinversetzen.“

Mit 13 riss Matthias von zu Hause aus, verkaufte Drogen in der Berliner Techno-Szene der 90er. Ecstasy, Speed, LSD. Die Jungs vom Schwulenstrich am Bahnhof Zoo gehörten ebenfalls zu seinen Stammkunden. Dann kümmerte sich die Jugendhilfe um ihn. „Ich hab' dann in so einem Jugendprogramm eine Maurerlehre in Spanien gemacht“, sagt er. Als er zurück nach Deutschland kam, rutschte er wieder in die Szene rein. „Dann haben sie mich mit 1,5 Kilo Ecstasy erwischt“, sagt er. Gefunden wurden die Drogen bei einer Wohnungsdurchsuchung. Jemand habe ihn verpfiffen, sagt Matthias. Fünf Jahre Gefängnis brachte ihm das ein.

Die Drogen, die Matthias verkauft hat, schluckte er auch selbst. Heutzutage kiffe er nur noch. Julia sagt, sie nehme gar nichts. Auch das Trinken sei weniger geworden, seitdem sie wieder in die Schule geht. Damit ist sie auf der Straße eine Ausnahme. Haschisch und Alkohol sind die Alltagsdrogen der Straßenkinder. Einige ziehen sich Speed oder Kokain durch die Nasenlöcher. „Einige rauchen oder drücken auch Heroin“, sagt Matthias. Viele täten dies versteckt und hielten es geheim. Eine offene Heroinszene, in der Christiane F. verkehrte, gebe es heute nicht mehr. Wenn man Matthias fragt, warum er mit einer so jungen Frau zusammen ist, kommt seine Antwort prompt: „Julia ist ehrlich und ich kann ihr vertrauen.“ In ihrer Beziehung gelten Tugenden, die auf der Straße scheinbar ausgehebelt sind. „Hier bescheißt dich jeder“, sagt Matthias.

Es ist mittlerweile dunkel geworden. Vor dem Zoo-Palast-Kino bildet sich eine Schlange für die Acht-Uhr-Vorstellung. Feierabend für Julia. Sie zählt das Geld im Pappbecher nach. Fünf Euro und ein paar Zerquetschte. „Im Winter läuft es echt beschissen“, sagt sie. Als es noch warm war, habe Julia in ein paar Stunden dreißig Euro geschafft. Schnorren sei aber immer noch besser, als auf den Strich zu gehen. „Ich würde mich das niemals trauen.“ Sie kenne aber Leute, die das machten. Etwa Jungs, die auf dem Schwulenstrich anschaffen gehen.

Julia nimmt Lyca an die Leine und Matthias an die Hand. Zusammen schlendern sie zum Bahnhof Zoo. Dessen Mythos für Straßenkinder sei vorbei, sagt Matthias. Die Szene sitzt jetzt am Alex. Einmal habe er Christiane F. am Zoo getroffen. Da sei er sich sicher. „So eine ältere Frau Anfang 40. Die wollte mir verklickern, dass es sich hier total verändert habe.“

An einer Pizza-Bude, die gerade schließt, machen sie Halt. Sie gehen zum Hinterausgang. Ein junger Angestellter grüßt die beiden. Das Paar ist bekannt hier. Er reicht ihnen eine Tüte gefüllt mit übrig gebliebenen Brezeln und Pizzen. „Man muss als Straßenkind nicht hungern“, sagt Julia und beißt in den fettig glänzenden Teigfladen. „Man muss in Deutschland auch nicht auf der Straße wohnen“, erwidert Matthias. Julia kaut schweigend. Ihr junges Gesicht sieht nachdenklich aus. Noch hat das Leben auf der Straße auf ihrem Antlitz keine Spuren hinterlassen. Dann sagt sie: „Manche haben aber keine andere Wahl.“ Die beiden gehen jetzt nach Hause. Sich aufwärmen und DVD gucken.

(*Name geändert)

Infos zu Straßenkindern unter:

www.offroadkids.de

Kathrin Drehkopf

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