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Die Ruine der Wiesenburg in Berlin-Wedding. Das stark verfallene Gebäude steht auf einem Privatgelände.

© Doris Spiekermann-Klaas

Streifzug durch die Hauptstadt: In den Ruinen von Berlin

Berlin ist auch eine Geisterstadt: Verlassene Bauten der vermarkteten Hauptstadt heben den Hipnessfaktor – und provozieren beschleunigte Bürger mit dem Stillstand der Dinge. Ein Streifzug.

Zur Geisterstadt gehört die Asylruine. Zwischen Grundmauern ehemaliger Schlafsäle schlagen dicke Bäume Wurzeln. Auf einem Stumpf hockt eine geschnitzte Rieseneule. Nebenan haben Tänzer, Bildhauer und Beleuchtungskünstler Ateliers eingerichtet. Am Bächlein gegenüber stehen Bienenstöcke und ein hoher Jägersitz. Um einen der zwei Schornsteine, mit deren Unterstützung hier vor hundert Jahren für Obdachlose das Badewasser geheizt wurde, streicht eine braune Katze. Außerdem gibt es in der Geisterstadt die antike Eisfabrik, eine rote Backsteinburg, vor der sich eine sandige Abrisswüste erstreckt. Am Rande: ein paar Tipis unter Anarchoflagge, ein bunter Bauwagen. Auf dem Fabrikdach angewehte Bäumchen. Am Schornstein lehnt ein kapellenartiger Bau mit Satteldach und hohen, glaslosen Fenstern.

Die Geisterstadt hat sogar stillgelegte Gleise samt Bahnhöfen, aus denen einst Siemens-Arbeiter zur Schicht hasteten. An einem kleben noch Lettern „BAHNHOF WERNER WE ...K“. Die letzte Bahnhofskneipe, „Café Köpu Bar“, ist zu. Vor vermauerten Aufgängen zwischen blauen Kachelwänden breitet ein Schlüsseldienst sein Depot aus.

Auf dem Bahndamm türmen sich über kaputten Schienen Bohlen und gestürzte Bäume zur Chaoskulisse. Aus dem Schotter sprießen grüne Büsche. Dazwischen Flaschen, Spritzen, eine Unterhose. Ein Tor mit Drahtgitter, Ketten, Schlössern, Eisenstangen, Stacheldraht. Ein Schild: „Achtung Absturzgefahr!“ Ebenfalls verfügt die seltsame Stadt über ein fesches Ballhaus am Spreeufer. Hohe Fensterbögen, der Wintergarten mit schwarzen Platten vernagelt. Im Schaukasten sieht man die Ziegelwand dahinter, im Keller auf rostende Motoren, im Garten auf glaslose Laternen. Ein überkuppelter Pavillon, gestapeltes Gestrüpp. Ziehende Wolken.

Mysteriöse Locations - Hip und ohne Lobby

Zur Geisterstadt gehört außerdem das unüberschaubare Brauereigelände. Kinder und Rucksackabenteurer quetschen sich zwischen den grünen Stäben des Gittertores („Kunden u. Besucher bitte Sprechanlage benutzen“) aufs stadtteilgroße Gewerbeterrain. Bröckelfassaden am Direktionshaus, durch ein Netz gesichert, sind säulengeschmückt. Am Maschinenhaus zersplitterte Scheiben. Auch der monumentale Bürokasten mit pathetisch geschwungener Portalüberdachung ist, mitten im Zentrumsgewusel, Teil der Phantomhauptstadt.

Plakatbeklebte Bretter verdecken die edle Granitverkleidung am Erdgeschoss. Blinde Fenster, runtergelassene Lamellen. Am Hausvorsprung eine dampfende Megakaffeetasse: lädierte Neonreklame. Im Eckenschatten: Schlafsäcke, Matratzen. „Privatgrundstück – Betreten und Schuttabladen verboten – Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“, steht auf einem Schild, dazu eine Telefonnummer...

Willkommen in der Ruinenmetropole! Während das neue Berlin mit Durchschnittsarchitektur langweilt und seine schicken Altbauten fürs 21. Jahrhundert aufpeppt, haben jene mysteriösen Locations, die den bedrohten Hipnessfaktor heben, keine Lobby. Gerade hat der Senat mit dem Rückkauf des Spreeparks im Plänterwald die Resozialisierung einer irren Landschaft angekündigt: wo bislang wuchernde Flora, das denkmalgeschützte Eierhäuschen, Rummelplatzfragmente und Urzeitviecher zaunüberwindende Abenteurer anlockten. Freilich prägen die derzeit bestehenden Hauptstadtruinen keineswegs das Panorama der Gemeinde. Sie bilden keinen Geisterkiez, sind zu Dutzenden über viele Bezirke verteilt. Der Asylkomplex „Wiesenburg“ liegt im Wedding, die Eisfabrik in Mitte, die Siemensbahn in der Siemensstadt, das Ballhaus in Grünau, die Bärenquell-Brauerei in Treptow. Das Haus der Statistik, wie der Gigakasten an der Otto-Braun-Straße mal hieß, steht einen Steinwurf vom Alexanderplatz.

„In den Ruinen von Berlin, fangen die Blumen wieder an zu blühn“

Wer an Werktagen in der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben anruft, wird gebeten, wegen des Hauses der Statistik eine Zweigstelle anzuwählen, wo man, trotz Sachbearbeiterdurchwahl, in eine zweisprachige Warteschleife mit Musik gelangt. „Unsere Zentrale ist zurzeit im Gespräch. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld. Wir bemühen uns, Ihre Verbindung herzustellen.“ Während 20-minütiger Phasen des Harrens meldet sich die Zentrale und entschuldigt sich, keine Idee zu haben, wer anwesend sei, das sei wegen Datenschutz nicht einsehbar. „Bitte haben Sie Geduld, Sie werden weiter verbunden“, sagt die Warteschleife. Anrufer beschleicht der Eindruck, auf eine poetische Installation gestoßen zu sein, die den hermetischen Zustand verlassener Häuser symbolisieren soll.

Dass Berlin zum Kriegsende und während der Teilung trümmerreicher war als heute, macht für gruselfrohe Touristen und urbane Romantiker sein melancholisch-morbides Filmsetimage aus. Den Zwiespalt dieses Flairs hatte 1948 Friedrich Hollaender – für den Stunde-Null-Plot „A Foreign Affair“ und die Dietrich als Nazibraut – so formuliert: „In den Ruinen von Berlin, fangen die Blumen wieder an zu blühn, und in der Nacht spürst du von allen Seiten, einen Duft als wie aus alten Zeiten“, dichtete der Emigrant, variierte die mehrdeutige Aussage aber in den anderssprachigen Alliiertenstrophen. Die Bäume blühen wie nie zuvor, hieß es da, nachts fühle man trotz aller Sorgen einen „Duft so weich wie das süße Morgen“ und erkenne: Die „phantoms of the past“ kämen nicht zurück, ganz neuer Frühling entspringe den Ruinen. Udo Lindenberg fügte 1986 DDR-Assoziationen hinzu: „In den Ruinen von Berlin fangen die Blumen wieder an zu blühn. Ihr Indianer, Arbeiter und Bauern, komm, wir sprengen alle Mauern.“ So verbinden sich die Lust an einstürzenden Staatsbauten und der Kick des Untergangs mit dem Trotz des Überlebens.

Der Normalberliner will weder in Trümmern leben noch daneben

In der Hardcorefraktion Berliner Ruinenfetischisten hat der Ire Ciarán Fahey mit seinem Blog „abandonedberlin“ bereits besonderen Ruhm errungen. Seine Fotoreportagen über mehr als 30 „Verlassene Orte“ animiert der Thrill des sportlichen, verbotenen Zugangs, die Faszination verblassender Pracht und der Geheimnisreiz: So verschweigt er die Adresse einer uralten Tankstelle, damit sie nicht von Banausen zerstört wird.

Zu den Hardcorefetischisten gehören auch jene autonom genannten Großstadtnomaden, die als Ruinennachbarn für ihre Zelten und Buden rechtsfreies Umfeld bevorzugen. Die bürgerliche Variante mit starker Bohemeanbindung funktioniert an der „Wiesenburg“ – wo eine Familie, die dem 1868 gegründeten Berliner Asylverein für Obdachlose seit Generationen verbunden ist, rund 12 000 denkmalgeschützte Gebäudequadratmeter, die Hälfte davon ohne Dach, mit ihrem Konzept „gepflegte Ruine“ an Künstler, für Gewerbe-, Wohn- Garagenraum und Dreharbeiten vermietet.

Der Normalberliner dagegen will weder in Trümmern leben noch daneben, goutiert zwar exotische Kontraste zur verfugten, vermarkteten Kapitale, würde aber um ganze Einsturzviertel eher einen Bogen machen. Wo er trotzdem seine Stadt zu lesen beginnt, erzählen ihm ihre ausrangierten Gemäuer (die so schnell nicht verschwinden werden!): vom Marktversagen, vom Strukturwandel, von Pleiten und Prozessen, von schönem Design, haltbaren Baustoffen, von vormaligen Endzeitszenarien und künftigen (die unsere Gegenwart in archäologisches Material verwandeln). Von Erinnerungsschichten, Übergangsepochen, Vergänglichkeit. Und, gegen den Strich turboeffektiver Beschleunigungsobsession, von Verlangsamung, dem Stand der Dinge. „Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld.“

Am 14. April um 13.30 Uhr bietet Stattreisen eine Führung durch die Wiesenburg in Wedding an, Anmeldung unter www.stattreisenberlin.de.

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