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Berlin: Streit um Arzneien: Schwerkranke ziehen jetzt vor Gericht

Der Streit zwischen Ärzten und Krankenkassen um die Kostenübernahme für Medikamente gegen schwere Krankheiten hat sich dramatisch verschärft. Einige Kassen wollten in den vergangenen Tagen kein Cortison mehr bezahlen, das bei akuten MS-Schüben die einzige Chance ist.

Der Streit zwischen Ärzten und Krankenkassen um die Kostenübernahme für Medikamente gegen schwere Krankheiten hat sich dramatisch verschärft. Einige Kassen wollten in den vergangenen Tagen kein Cortison mehr bezahlen, das bei akuten MS-Schüben die einzige Chance ist. Außerdem verweigern sie Immunglobuline für HIV-Kranke mit schwersten Symptomen, obwohl diese aus Ärztesicht das letzte noch sinnvolle Mittel sind. Zugleich wird um weitere MS-Arzneien und 18 Krebspräparate heftig gerungen. Schwerkranke ziehen jetzt vor Gericht, um ihre Präparate einzuklagen. Wie berichtet, ist die fehlende Zulassung der Mittel für ihren jeweiligen Einsatz Dreh- und Angelpunkt des Streits.

Es gab zwar in den vergangenen Wochen etliche Gespräche zwischen Kassen und niedergelassenen Medizinern, bei denen man sich um Kompromisse bemühte, doch bislang war dies nahezu vergeblich. Nur die Krebsärzte sprechen von "einer Annäherung". Sie streben ebenso wie die HIV- und Nervenärzte eine Konsensliste an. Darauf sollen alle Medikamente vermerkt sein, die auch künftig außerhalb ihrer Zulassungsindikation im Einvernehmen mit den Kassen verschrieben werden dürfen. "Wir wollen eine klare Grenze zur Scharlatanerie ziehen", sagt die Sprecherin der Onkologischen Schwerpunktpraxen, Julia Herrenberger. "Aber es muss neben den offiziell anerkannten Präparaten auch weiterhin jene geduldeten Therapien geben, die wir teils seit Jahren erfolgreich praktizieren. Sonst entsteht eine Versorgungslücke." Gesundheitliche Schäden wären die Folge.

Bevor ein Medikament für bestimmte Indikationen zugelassen wird, müssen dessen Hersteller sehr teure und zeitaufwendige Studien anfertigen. Deshalb konzentrieren sich die Firmen meist auf eine Indikation. In der Praxis stellt sich dann aber häufig heraus, dass ein Präparat auch anderweitig hilft. Kliniken fertigen dazu Studien an, daran orientieren sich die niedergelassenen Ärzte. Nun setzen auch sie das Mittel vielfältiger ein und sichern dies durch Erfahrungsaustausch ab.

Wie berichtet, waren die Kassen bis vor einem halben Jahr kulant. Gab es ernsthafte Hinweise, dass ein Mittel auch gegen Erkrankungen wirkt, für die es nicht zugelassen ist, so bezahlten sie es fortlaufend oder im Rahmen eines Heilversuches. Doch inzwischen erklären sie Ausnahmen für unrechtmäßig und lehnen sie ab. Hält sich ein niedergelassener Arzt nicht daran, werden ihm die Medikamente in Rechnung gestellt.

Jochem Schulz, Vorstandschef der Berliner Betriebskrankenkasse (BKK), verficht diesen Kurs. Er sagt, die Warnungen vor gesundheitlichen Schäden seien eine "Ärztelüge". Schulz: "Berlins Kassen sind sich einig. Wir entscheiden jetzt nach Rechtslage."

Doch diese ist umstritten. Laut Sozialgesetzbuch (SGB) müssen Präparate auf Kassenkosten dem "allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen." Das ist laut Gesetz entweder durch die Zulassung garantiert, oder durch eine Empfehlung des Bundesausschusses Ärzte / Krankenkassen. Dieses zweite oberste Prüfgremium kommt zum Zuge, wenn eine Zulassung für eine Krankheit fehlt, ein Präparat aber erfolgversprechend erscheint. Doch die Expertenrunde ist überfordert, sie hat noch längst nicht alle strittigen Mittel bewertet.

Deshalb werden immer mehr Arzneikonflikte vor den Sozialgerichten ausgetragen. Im Gegenzug berufen sich die Kassen auf Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) zu ähnlichen Streitfällen aus den 90er Jahren. Damals entschieden die BSG-Senate teils in ihrem Sinne, doch auch gegen sie. Hochdifferenziert sind zudem die Urteilsbegründungen, ein striktes "Nein" wollte kaum ein Richter riskieren, zu schwer wiegt die Verantwortung für mögliche Gesundheitsfolgen. Aus diesem Grunde ließ das BSG auch Schlupflöcher zu wie den Gesichtspunkt des Notstandes. In einem solchen Falle seien die Kassen in der Pflicht.

Beharren sie dennoch auf einer Ablehnung, schreiben viele Ärzte inzwischen Privatrezepte aus. HIV-Expertin Elke Lauenroth-Mai: "Dadurch müssen sich die Kassen mit den Betroffenen selbst auseinander setzen."

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