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Berlin: Stromausfall, Scherben-Demo, lebende Notrufsäulen - Was die Beamten in der Silvesternacht erwartet

Der Gegner heißt "Y2K" und ist verantwortlich für einen der größten Einsätze in der Geschichte der Berliner Polizei. "Y2K" ("Y" für year, "2K" für 2000) ist das Kürzel für den großen Computer-Crash zum Jahrtausendwechsel.

Der Gegner heißt "Y2K" und ist verantwortlich für einen der größten Einsätze in der Geschichte der Berliner Polizei. "Y2K" ("Y" für year, "2K" für 2000) ist das Kürzel für den großen Computer-Crash zum Jahrtausendwechsel. Der Albtraum der digitalisierten Gesellschaft, deren gesamtes öffentliches Leben von Computern gesteuert wird. Die Polizei baut mit einem riesigen Aufgebot von Einsatzkräften vor und hat verschiedene Szenarien für die Silvesternacht entwickelt.

Seit dem Sommer laufen die Planungen für den Fall, dass Computer in der Silvesternacht (zumindest zeitweise) ausfallen. Über die dann befürchteten Probleme und die Vorbereitungen wird nicht gerne geredet. Klar ist, dass bei Computern mit zweistelliger Jahresanzeige das Datum von 99 auf 00 springt und sie womöglich aus dem Takt geraten. Was dann genau passiert, weiß allerdings kein Experte.

Bei normalen Jahreswechseln sind in Berlin etwa 1500 bis 2000 Polizeibeamte im Dienst. In diesem Jahr aber beginnt Silvester für Polizei und Feuerwehr bereits am Morgen des 29. Dezember. Alle Polizeibeamten, die nicht langfristig Urlaub beantragt hatten, werden im Einsatz sein. Mit Beginn der "heißen Phase" am Abend des 31. Dezember mindestens 8500. Diese Zahl kann noch steigen, denn in anderen Bundesländern wurden acht Hundertschaften zur Unterstützung angefordert. Zugesagt sind bisher zwei. Zusätzlich wird man noch 500 bis 600 zivile Polizeiangestellte und -arbeiter aufbieten. Ein gigantischer Einsatz.

Ein möglicher Stromausfall bereitet der polizeilichen "Projektgruppe Y2K" denn auch die größten Sorgen. Anfangs ging sie davon aus, dass es im Ostteil Berlins zu einem totalen Blackout kommt. Dort kommt der Strom noch aus dem ehemaligen Ostblock. Mittlerweile rechnet man nur noch mit einer "30-prozentigen Wahrscheinlichkeit". Die Bewag redet höchstens von einem kurzfristigem Ausfall in Randbezirken, will sich aber nicht darauf festnageln lassen. Also geht die Polizei vorsichtshalber davon aus, dass auch zentrale Bereiche dunkel werden können und rechnet "kurzfristig" mit einer Stunde.

Im Präsidium und allen wichtigen Polizeigebäuden springen dann die Notstromaggregate an. Wenn es sein muss zehn Tage lang. Doch in der Stadt wird dann nichts mehr gehen. Kein Licht, keine Ampel. Stehen elektronisch gesicherte Türen plötzlich sperrangelweit offen? Kommt es zu Plünderungen? Oder werden solche Türen blockiert und Menschen sitzen fest? Niemand weiß es. Da auch Telefone Strom benötigen, wären Notrufe nicht mehr möglich. Das wäre der Ernstfall. Ebenso wie die Feuerwehr, die mit 1800 Mann im Einsatz ist, werden nun alle verfügbaren Beamten an den wichtigsten Plätzen und Kreuzungen der Stadt stationiert. Weitere sollen als lebende Notrufsäulen auf die Straßen geschickt werden.

Gleichzeitig finden in der Stadt zahlreiche Millenniums-Veranstaltungen statt. Allein für die Riesen-Fete am Brandenburger Tor wird mit einer Million Menschen gerechnet. Die traditionelle Berliner Knast-Demo in Moabit wird gewöhnlich erst im letzten Moment angemeldet. Seit einigen Wochen wird zudem im Internet bundesweit für eine Großdemonstration "Classwar 2000" mobilisiert: "Es gilt an diesem Tag vor den Augen der versammelten Weltpresse ein unübersehbares Signal gegen die Festtagslogik der Bonzen zu setzen". Wer dahinter steckt, wissen Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt (BKA) nicht. Also hat sich die Polizei auch auf eine linksradikale "Scherbendomo in Mitte" eingerichtet.

Ein Sektenspektakel am Pergamon-Altar, der einigen als Thron des Teufels gilt, hat die Projektgruppe inzwischen aus dem Szenario gestrichen. Auch mit kollektiven Selbsttötungen wird nicht mehr gerechnet. Von israelischen Sicherheitsdiensten hat das BKA erfahren, dass sich die Apokalyptiker dieser Welt in Israel versammeln wollen - und Entwarnung gegeben.

Ihre eigenen Computer machen der Polizei die wenigstens Sorgen. Alle wichtigen Systeme wurden getestet. Die Datenverarbeitung im Landeseinwohneramt und im Kraftverkehrsamt gilt als Y2K-resistent. "Zertifiziert" lautet der neue Fachbegriff. Zertifiziert ist auch das INPOL-System, ein länderübergreifender Informationsaustausch. Selbst das anfällige Computersystem des "Berliner Modells" soll Jahr-2000-tauglich sein. Bleibt noch das zentrale Berliner "Informationssystem Verbrechensbekämpfung". Auch hier soll es keinen Datenverlust geben, ist zu hören. Andere Stellen sind skeptischer: Definitiv könne man das erst in zwei Wochen sagen.

Plangemäß endet der Y2K-Einsatz am Abend des 3. Januar 2000. Bleibt alles ruhig, sollen die ersten Beamten am Neujahrsmorgen ab 2 Uhr nach Hause gehen dürfen.

Otto Diederichs

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