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Amtshilfe für den Gerichtsvollzieher. Mit schweren Hämmern und anderem Gerät verschaffte sich die Polizei Zugang. Bei den Protesten gegen die Räumung kam es zu Festnahmen.

© AFP

Berlin: Sturm auf die Festung

Sie hatten sich verbarrikadiert, doch es nützte nichts. Um 8 Uhr kam der Gerichtsvollzieher in die Liebigstraße – und mit ihm 2000 Polizisten

Düster ist es draußen, nass und kalt. Aus dem großen bunten Haus dringen die schrägen Töne einer Mundharmonika. Es ist die Titelmelodie aus dem Film „Spiel mir das Lied vom Tod“. Sie läutet die letzten Stunden des alternativen Wohnprojekts in der Liebigstraße 14 ein. Bis zuletzt hatten die Bewohner gekämpft, waren vor Gericht gezogen, wollten bleiben. Vergeblich.

Als der Morgen langsam dämmert, macht sich der Gerichtsvollzieher bereit, das Gebäude zu betreten.

Niemand weiß, wie es in dem Eckhaus aussieht. Die Bewohner, die im Haus geblieben sind, haben die Fenster zugeklebt und die Türen vernagelt. Vermummte Polizisten stehen auf den Dächern, mit Scheinwerfern strahlen sie das Haus an. Dann verstummt die Mundharmonika. Es ist 8 Uhr. Die Räumung soll beginnen.

Polizisten stapfen im Nachbarhaus die Treppen hinauf. Sie tragen Helme und Ganzkörperpanzer. Vom Dachboden aus wollen sie in die Nummer 14 eindringen, denn anders kommen sie nicht hinein. Aus dem verbarrikadierten Haus ist kein Mucks zu hören, nur ein Generator brummt leise. Diejenigen, die sich darin verschanzt haben, rechnen damit, dass man ihnen den Strom abklemmen wird. Auch die Polizeibeamten rechnen mit einigem: Sie tragen Vorschlaghämmer und Rammböcke, Trennschleifer und Motorsägen, Brecheisen und Stangen.

Fast 2000 Polizisten sind auf den Straßen im Friedrichshainer Nordkiez unterwegs, die Gegend rund um die Liebigstraße ist Sperrgebiet. Um die Ecke parken Wasserwerfer und Räumpanzer. Mitten unter den Polizisten steht der Gerichtsvollzieher, grauhaarig, hager, höflich: „Unangenehm ist das schon, nur ich habe mir diesen Fall nicht ausgesucht.“ Er hat einen jungen Referendar dabei. Der macht Fotos von den maskierten Einsatzkräften.

Auf dem Dachboden der Hausnummer 14 verzweifeln derweil die Polizisten. „Kriegen wir nicht gerammt“, ruft einer. „Hol mal die Maschinen“, sagt ein anderer. Immer wieder verlangen sie über Funk Verstärkung. Schließlich sprühen Funken, nach 30 Minuten ist die Tür des Dachbodens offen. Doch damit haben die Bewohner gerechnet. Sie haben den Weg mit Wassereimern und Wannen verstellt, auch Wasserhähne haben sie überall im Haus aufgedreht. Und es tropft und trieft – bis in die Nachbarhäuser hinein. Die Einsatzleitung lässt im gesamten Häuserblock das Wasser abstellen.

Meter um Meter kämpft sich das Räumkommando ins Haus. In den Fluren haben die Bewohner Holz- und Stahlgerüste aufgetürmt, überall Bretter zusammengenagelt. Die Polizei bricht schließlich Wände ein, um voranzukommen. Später sagen sie, die Bewohner hätten Falltüren angelegt, sie mit Feuerlöschern attackiert. Die Bewohner wiederum sagen, die Polizisten hätten Reizgas versprüht.

Draußen auf den Straßen sieht die Widerstandsbewegung zum Beispiel so aus: Ein junger Mann, der sich schwarze Sachen angezogen hat, steht kurz vor neun auf einer der Fahrspuren der nahen Frankfurter Allee und starrt angestrengt unbeteiligt ins Nichts. Er starrt hinweg über das Dach des vor ihm stehenden Autos, er verhindert dessen Weiterfahrt, und als nach einer halben Minute ein paar Polizisten angelaufen kommen, rennt er weg. Es ist ein trauriges Schauspiel, am Rande einer Hundertschaft von Menschen, die auch alle Schwarz tragen.

Gelegentlich werden sie Sympathisanten genannt, Sympathisanten der Bewohner der Liebigstraße Nummer 14, aber ob sie für überhaupt irgendetwas Sympathie empfinden, wird nicht ganz klar. Manchmal nennt man sie auch Aktivisten. Ihre Aktivität an diesem Mittwoch wird darin bestehen, mit Steinen zu werfen. Sie ziehen 300 Meter weiter, Richtung Stadtmitte, sie fangen an, Steine zu werfen. Sie sehen sich einer Einheit der Bundespolizei gegenüber, die sich rasch, es ist mittlerweile kurz vor halb elf, zurückzieht. Die Polizisten laufen in Zweierreihe, eine Fußgängerampel steht auf Rot, die Straße davor ist leer, sie warten so lange. Ein Mann mit Hund steht auf der anderen Seite, er staunt: „Oah, kiek an hier“, sagt er zu dem Hund, „kiek an“.

Im Januar vor 23 Jahren sah der Berliner Widerstand an diesem Ort so aus: DDR-Bürgerrechtler wollten am Rande der jährlich stattfindenden, offiziellen Rosa-Luxemburg-und-Karl-Liebknecht- „Kampfdemonstration“ ein Transparent mit einem Luxemburg-Zitat hochhalten, „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“. Sie waren in der Minderheit, Staatssicherheit und Volkspolizei verhafteten nach Kräften und bürgerten aus, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Wollenberger, Bärbel Bohley, Werner Fischer, Wolfgang Templin.

Mietshausräumung, DDR-Widerstand – die Liebigstraßenbewohner haben diesen Zusammenhang selbst hergestellt, als sie am Vortag eine Pressekonferenz abhielten. Sie fand statt in der dem Haus gegenüberliegenden Galiläa-Kirche. Hier ist das Jugendwiderstandsmuseum ansässig. Die konferierenden Liebigstraßenbewohner waren umgeben von Stelltafeln, die, so das Ausstellungskonzept, einen „Einblick in das Wirken einer überwiegend jugendkulturell geprägten Oppositionsszene“ geben soll und „die Erinnerung an den Mut der Protagonisten von Widerstand und Opposition wach halten“. Sie verbaten sich, ihre Namen zu erfragen, und Fotos und Filmaufnahmen bitte nicht von den Gesichtern, bitte nur von hinten. Der Mut der Protagonisten.

Seit dem frühen Mittwochmorgen nun sind die Sympathisanten eingetroffen. Den Blick auf ihre GPS-Handys, steigen sie aus den U-Bahnhöfen Samariterstraße und Frankfurter Tor, und versuchen herauszufinden, wo genau die Liebigstraße denn nun ist. Wenn sich an den Polizeisperren die Gelegenheit bietet, heben sie den Blick und starren Polizisten böse an.

Sie tragen dieselbe aggressive Stimmung in das Samariterviertel hinein, die hier eine Zeitlang in den 90er Jahren fast täglich herrschte. Als dutzende Häuser hier besetzt waren oder als besetzt galten und nach dem Amtsantritt des Innensenators Jörg Schönbohm 1996 etliche von ihnen geräumt wurden. Als viele Anwohner sich nicht entscheiden konnten, was genau ihnen unangenehmer war, ein Teil der Besetzerszene, ein Teil der Immobilienbesitzer oder die Arbeitsweise der nahezu ständig anwesend scheinenden Polizei. Als auf einem dieser Häuser noch der Satz zu lesen war: „Jeder geschlossene Raum ist ein Sarg“.

Vor dem Haus in der Liebigstraße steht am Mittwoch ein Mann, der vor 20 Jahren 500 Meter weiter in einen der heftigsten Polizeieinsätze der deutschen Nachkriegsgeschichte verwickelt war. Mit zehn Wasserwerfern und zwei Hubschraubern begannen 3000 Polizisten am 14. November 1990 die kurz zuvor besetzten Häuser in der Mainzer Straße zu räumen. Damals flogen Steine und Molotowcocktails, 500 Autonome verteidigten die 13 besetzten Häuser. Das war politisch relevanter Protest, erinnert er sich. „Heute“, sagt er, „steht hinter Wohnprojekten einfach keine Bewegung mehr.“ Das bedauert er.

Am Abend nach der Räumung der Mainzer Straße 1990 gingen mehr als 10 000 Menschen auf die Straße. Gestern Abend versammelten sich bis zu 2000 Protestler zu einer Demonstration, die schnell erneut in heftige Gewalt ausuferte .

Um kurz vor 12 Uhr kommt der Gerichtsvollzieher die Treppe in der Liebigstraße 14 hinunter. Erledigt? „Kann man wohl sagen“, sagt er. Wenig später werden sechs Männer und drei Frauen im Haus festgenommen. Sie hatten sich im dritten Stock verbarrikadiert, vom Balkon die schwarze Fahne der Anarchie geschwenkt. Dann wurden sie abgeführt.

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