zum Hauptinhalt

Berlin: Sturz vom Gerüst ins Soziale Netz

Tausende Menschen verunglücken jedes Jahr auf der Arbeit schwer. Sie sind über die Berufsgenossenschaft abgesichert, die auch die Reha zahlt

Ein Fehltritt nach 30 Berufsjahren, der alles veränderte. „Ich war der Mann für die kniffligen Aufgaben“, sagt Kai Wiese (Name geändert). Ein Fenster – zu groß, um es im engen Treppenhaus in die sechste Etage zu hieven – sollte Wiese vom Baulift entgegennehmen. Wie immer steigt er aus dem Gebäudefenster halb in den Lift: Ein Bein im Haus, das andere in der Gondel, balanciert er in Schwindel erregender Höhe. Routine für den gelernten Bautischler.

Doch an diesem Tag im Oktober 2010 geben die Ketten, die eine Klappe des Lifts sichern, nach. Wiese stürzt zwanzig Meter in die Tiefe. Dass der 49-Jährige diesen Sturz überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Mehrere Organe sind verletzt, viele Knochen gebrochen. Aber das Schlimmste: Schädel und Gehirn sind durch den Aufprall schwer verletzt. Nun heißt es: Zeit ist Hirn. Die Blutungen und auch die Quetschung lassen in jeder Minute, die jetzt ungenutzt verstreicht, Millionen Neuronen absterben. Die Chance, wieder das Leben aufnehmen zu können, das er vor dem Unglück führte, sinkt.

Wie Wiese verunglückten im Jahr 2010 mehr als 16 500 Personen an ihrem Arbeitsplatz schwer. Als Arbeitnehmer sind sie durch die gesetzliche Unfallversicherung abgesichert. Aber nicht nur Berufstätige – übrigens nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch auf dem Weg dorthin und zurück – genießen diesen Schutz, sondern auch Schüler, Studenten, ehrenamtlich Tätige, Blutspender, Erste-Hilfe-Leistende oder Kinder in der Kindertagesstätte.

„Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein ganzes Sozialversicherungssystem im Kleinen“, sagt Stefan Boltz, Sprecher der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGVU). Sie zahle nicht nur die Kosten für die medizinische Akutversorgung, die Rehabilitation und Reintegration in das Berufsleben, sondern auch Pflegekosten und Unfallrenten. Bundesweit versorgen neun Berufsgenossenschaftliche Unfallkliniken die Versicherten.

Auch Kai Wiese profitiert von dieser Infrastruktur: Erst retten die Ärzte des Unfallkrankenhauses Berlin – der einzigen Berufsgenossenschaftlichen Klinik in Berlin und Brandenburg – sein Leben. Danach behandeln sie den Bautischler in der neurologischen Rehaklinik des Hauses.

Heute, ein drei viertel Jahr nach seinem Unglück, ist Wiese immer noch schwer von den Folgen gezeichnet. Um längere Strecken zurückzulegen, benötigt er immer noch einen Rollstuhl, seinen rechten Arm kann er nur schwer bewegen. Doch der Sturz aus dem sechsten Stock hinterließ auch Spuren an Wieses kognitiven Fähigkeiten. Er leidet unter einer Gedächtnisstörung, ihm entfällt kürzlich Erlebtes. An den Unfall kann er sich gar nicht erinnern. Wiese spricht mit verwaschener Stimme – auch sein Sprachzentrum ist geschädigt. Und wenn seine beiden zweijährigen Töchter ihn besuchen, ist er schnell überfordert. Denn er kann sich nur schwer konzentrieren. „Das Gekreische ist mir einfach zu viel.“

„Wiese ist bei äußeren Reizen schnell überfordert“, sagt Ingo Schmehl, Direktor der „Klinik für Neurologie mit Stroke Unit und Frührehabilitation“. Als der Bautischler mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug, zerrissen viele Nervenstränge zwischen dem Hirnstamm und der umgebenden Großhirnrinde. „Beide Hirnteile sind miteinander verbunden, beim Aufschlag verschieben sie sich gegeneinander“, erklärt Schmehl. Die verbliebenen Nervenstränge schafften es einfach nicht, alle eintreffenden Reize weiterzuleiten.

Auch wenn Wiese wahrscheinlich nicht mehr in seinen alten Beruf wird zurückkehren können, gilt für die Berufsgenossenschaften die Devise „Reha vor Rente“. Wenn irgend möglich sollen die Rehabilitanden wieder in das Arbeitsleben zurückkehren können.

Deshalb strotzt die Werkstatt der Reha im Unfallkrankenhaus Berlin nur so vor Kreissägen, Bohrern und Pressen – denn viele der Schwerverletzten kommen aus dem Handwerk und sollen an ihren alten Gerätschaften wieder die ehemals gewohnten Handgriffe üben. Ein Raum weiter steht ein Fahrsimulator. Neben ihm ist ein Arbeitsplatz eingerichtet, dessen Computer sich mit dem Mund steuern lässt – er ermöglicht es auch schwerbehinderten Menschen, die ab den Halswirbeln abwärts gelähmt sind, sich in sozialen Netzwerken herumzutreiben, E-Mails zu lesen oder sogar ihrem vorherigen Beruf am PC nachzugehen.

Doch nicht immer erlangen die Patienten ihr altes Leistungsniveau zurück. Einige werden ihr Leben lang mit körperlichen und kognitiven Defiziten leben müssen – und arbeiten. Damit sie möglichst an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren können, kann dieser ihren Bedürfnissen entsprechend umgestaltet werden – die Berufsgenossenschaften übernehmen die Rechnung. Aber während sich Bürojobs gut behindertengerecht umstellen lassen, sieht es in der Baubranche oft anders aus. Für einen querschnittsgelähmten Dachdecker muss ein anderer Beruf gefunden werden – möglichst im alten Betrieb. Zu den Leistungen der Unfallversicherung zählt daher auch eine berufliche Umschulung. „Findet sich im alten Betrieb jedoch nichts Passendes, schauen unsere Berufsberater auch in anderen Unternehmen nach einer neuen Stelle“, sagt Boltz.

Kai Wiese wird nie wieder auf ein Gerüst klettern oder schwere Glasscheiben schleppen. Und ob er jemals einen anderen Beruf ausüben wird, ist ungewiss. Sicher ist, dass er nicht mehr in vollem Maße arbeiten kann und deshalb von der Versicherung eine Rente erhalten wird – als Kompensation für die verlorene Arbeitskraft. Wie hoch diese ausfällt, richtet sich nach dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit und dem Jahreseinkommen vor dem Unfall: Die „Vollrente“ bei 100 Prozent Erwerbsunfähigkeit beträgt zwei Drittel des vorherigen Einkommens. Bei 1000 Euro Verdienst sind das rund 666 Euro Rente. Auch Pflegegeld wird gezahlt, sollte der Versicherte nach einem Unfall darauf angewiesen sein.

Die Versicherungskosten tragen die Arbeitgeber allein. Im Gegenzug müssen die Unternehmer keine Schadensersatzansprüche fürchten – Kosten, die sich schnell im sechsstelligen Bereich bewegen können und den Ruin für manchen Mittelständler bringen würden. „Die Unfallversicherung greift unabhängig vom Verschulden“, sagt Sprecher Boltz. Wird dem Arbeitgeber aber nachgewiesen, dass er Arbeitsschutzregeln missachtet, kann es für ihn teuer werden. Die Unfallversicherung kann in diesem Fall die Kosten von ihm wiederholen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false