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Auch wer unter dreieinhalb Millionen Menschen lebt, ist gegen Einsamkeit nicht gefeit.

© picture alliance / dpa

Nachruf auf einsamen Mann in Berlin: Sieht mich jemand?

Sammlungen sollten Dose ein erfülltes Leben vorgaukeln. Per Kleinanzeige suchte er Kontakt. Dieser Nachruf aus dem Oktober 2016 wurde mit dem Axel-Springer-Preis in Gold ausgezeichnet. Hier nochmal zum Nachlesen.

Dose hat mir die Tiere hinterlassen. Die Tiere und das bisschen Innehalten. Mir wurde das bewusst, als neulich eine Maus durch die Kneipentür entwischte. Sie kam aus dem Hinterzimmer, wich gerade noch einem Paar schwarzer Stiefel aus, und kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, entkam sie ins Freie. Ich dachte, das hätte Dose jetzt gefallen. Er hätte da gesessen, die Maus vielleicht als Einziger bemerkt und wäre für einen Augenblick glücklich gewesen. Sein Gesicht wäre sanft geworden, zuversichtlich. Ein leises Lächeln vielleicht. Als Mensch kam man in diesen Momenten gar nicht mehr an ihn ran. Er war wie weggetreten, ganz in einer Welt mit der Maus, der Spinne, der Libelle, was es auch gerade war.

Gottverdammte Einsamkeit

Ich bin männlich, 45 Jahre alt und wohne im Südwesten der Stadt. Ich bin einsam und wünsche mir nur eine einzige Person, die mit mir in den Zoo geht.

Liebe Grüße, Dose

So fing es an. Mit dieser Ebay-Kleinanzeige vom 1. Mai 2014. Mit der Frage: Wer ist dieser Mann? Mit der Bitte, einen Einblick in sein Leben zu erhalten. Mit seinem Enthusiasmus, als er zusagte. „Endlich antwortet mir jemand.“ Und sei es nur eine Journalistin.

Wir trafen uns vor den Steinelefanten, am Haupteingang des Berliner Zoos. Es war einer dieser Frühlingstage, an denen der Wind zwar eiskalt weht, die Sonne aber doch alle aus den Häusern treibt. Dose war der große Mann, ganz in schwarz, der etwas abseits wartete. Die Hände in den Taschen, Bomberjacke, Springerstiefel. Auf dem Kopf eine Kappe voller Buttons. „Daily Terror“ stand da, und „Troopers Gewalt“.

Er war der, dem die anderen Zoobesucher verstohlene Blicke zuwarfen. Der, bei dem sie sich fragten, was macht so einer hier?

Sie konnten ja auch nicht wissen, dass der Zoo Doses Revier war, dass er einmal die Woche herkam und jeden Winkel und jedes Tier kannte. Die Fremden hier – das waren sie.

Allein, wie Dose seine Zoo-Jahreskarte anfasste, behutsam, wie einen Schatz. Und wie er sie dann der Kassiererin hinhielt, direkt vor das Gesicht, als wolle er ihr zeigen, dass er dazugehört.

„Das ist mein Luxus hier“, sagte er. „Kostet 60 Tacken. Schon ein Hammer. Vor allem bei Hartz IV. Aber muss sein. Da ess’ ich lieber nichts.“

Es gab eine Zeit, da hatte er ein anderes Leben

Am Anfang, als ich Dose im Zoo hinterherlief, hatte das etwas von einer Show. Wie er uns durch die Wege dirigierte. Wie er die Menschen beiseite schob. „Darf ich mal bitte?“ Er kannte jedes Tier beim Namen. Er lockte und streichelte sie, auch gefährliche, obwohl es verboten war. Für einen Schnappschuss von einem Reh übersprang er die Absperrung des Geheges. Die Besucher staunten.

Einmal, so erzählte Dose, sei ein Steinbock aus einem Gehege abgehauen. Während die anderen Besucher nur da standen und lachten, habe er versucht, den Steinbock zu fangen. Aber fang mal einen Steinbock! Er alarmierte dann die Wärter. Sie seien ihm sehr dankbar gewesen.

Diese ersten Minuten hätte ich Doses Auftreten fast als arrogant abgetan. Doch im Streichelzoo beendete Dose seine Vorstellung. Dort war er nur für sich. Er wurde ganz ruhig, setzte sich im Schneidersitz inmitten des Chaos aus Eltern, Kindern und Tieren hin und wartete. Es dauerte fast zehn Minuten, dann kam eine Ziege auf ihn zu. Vorsichtig hob er die linke Hand, ließ die Ziege schnuppern, streichelte ihr dann sanft den Kopf. Er schwieg lange. Auf seinem Gesicht dieses melancholische Dose-Lächeln, mehr nach innen, ohne Zähne, ohne Leuchten. „Weißt du, warum ich die Tiere so mag?“, fragte er. „Die Tiere kommen von sich aus. Menschen kommen nie.“

Er sagte das nicht einfach so. Er hatte es ja versucht mit den Menschen, immer wieder, hatte sich auf Datingportalen angemeldet, Anzeigen geschaltet, Flyer aufgehängt, doch wenn sie ihn dann trafen, erschraken sie. Keiner wollte diesen Mann ganz in Schwarz, ohne Arbeit, ohne Geld.

Es gab eine Zeit, da hatte Dose ein anderes Leben. Eines mit einem Job als Paketbote, mit Freunden, vor allem mit einer Frau, seiner Frau.

Sie lernten sich 1993 bei einem Fanclub-Treffen der Schlagersängerin Nicole kennen und heirateten zwei Jahre später. Es waren 35 Grad. Der 14. Juli. Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Doch der Alltag verschluckte die Liebe. 2003 ließen sie sich scheiden.

Es kamen noch vier Frauen. Die erste versprach viel und war über Nacht verschwunden. Die zweite explodierte, wenn Dose explodierte. Dose explodierte immer öfter, es fehlte der Puffer. Mit der dritten zog auch ihr Alkoholproblem in seine Wohnung. Nur die vierte, eine Kollegin, machte ihn wirklich glücklich. Aber sie wurde schwanger. Das kleine Mädchen gaben sie zur Adoption frei, es war das Richtige, sagt Dose, aber sie konnten sich nicht mehr in die Augen schauen.

So wuchs nach und nach der Frust, und der Frust nahm ihm den Rest. Erst den Job, weil er vor einem Supermarkt ausrastete, als ein Mann ihm den Parkplatz klaute, weil er schlug und trat und am Ende einfach wegfuhr. Dann die Freunde, weil sie sein Selbstmitleid nicht mehr ertrugen. Als auch er es nicht mehr ertrug, schnitt er sich 2013 die Pulsadern auf. Er überlebte und fing an, sich in der Einsamkeit einzurichten.

Ich fragte Dose, als er das alles erzählte, zwischen den Menschen, den Tieren, den Gehegen, ob er denn kein Stück Hoffnung mehr habe, dass sich etwas ändern könne. Er verneinte und nahm mich mit zu den Pinguinen. Er holte einen kleinen Spiegel aus der Innentasche seiner Jacke, den er vor jedem Zoobesuch vorsichtig in Küchenrolle einpackte. Damit reflektierte er einen Lichtpunkt in das Gehege, und die Pinguine folgten ihm. Von rechts nach links, ins Wasser, auf den Felsen. Auf einmal waren die anderen Menschen ganz nah, schauten über seine Schultern, darf ich auch mal?

Er sagte, früher habe er immer gehofft, dass er damit eine Frau beeindrucken könne. Dass sie ihn sähe und sagte: Mensch, das ist ja toll, wie du das machst, wer bist du denn? Aber sobald er den Spiegel weg tat, war er wieder allein. „Es hat keinen Sinn mehr, zu hoffen“, sagte Dose. Ich glaubte ihm nicht. Wäre es so, warum brachte er den Spiegel dann jedes Mal wieder mit? Warum hatte er die Anzeige geschaltet? Und was soll das denn für ein Leben sein, ganz ohne Hoffnung?

"Die Küche ist tabu", sagte er

Dose zeigte mir seine Wohnung. „Aber die Küche ist tabu, ja?“ Ja. „Die Küchentür ist zu und wird auch nicht aufgemacht, klar?“

Die Wohnung war vollgestopft mit seinen Sammlungen. Er hatte die Wände mit 220 Fußballschals, 555 Wimpeln, 301 Eishockeypucks und je 100 Telefonkarten und Briefmarken mit Wolfmotiv tapeziert. Ganz akkurat, sehr symmetrisch. Kein Zentimeter Tapete war zu erkennen, nirgends, nicht mal im Bad. In Vitrinen und Regalen waren Feuerzeuge, Badeenten, Bierkrüge, Autogrammkarten, Giraffen- oder Björk-Devotionalien und Dosen. Daher auch der Name, Dose, es war damals die erste Sammlung.

Je einsamer Dose wurde, desto umfangreicher wurden die Sammlungen. Als an den Wänden kein Platz mehr war, fing er an zu fotografieren. Abertausende Bilder, alles Serien. Sie trugen Namen wie „Alle Gullis in Steglitz“ oder „Berliner Grabsteine mit E“. Als ich nach den Fotos fragte, sagte er, er müsse doch etwas zu tun haben. Beschäftigungstherapie quasi. Als ich fragte, warum er das alles aufhängte, sagte er: „Damit man was vom Leben hat.“ Es sei ein gutes Gefühl, das anzuschauen. So als hätte man ganz viel erlebt.

Ich wusste nicht was ich trauriger finden sollte. Dass sich Dose in seiner Wohnung die Illusion einer erfüllten Vergangenheit erschaffen hatte. Oder dass er sich dessen bewusst war.

Als er mich an diesem Abend zur Tür begleitete, starrte mich Hitler an. Dose schien vergessen zu haben, die Küchentür zu schließen, nachdem er Tee gemacht hatte. Hitler war überall in der Küche. Am Fenster hingen drei NPD-Flaggen, an der Wand zwei NPD-Plakate, am Kühlschrank ein Hakenkreuz. Dazu, in einer Vase auf dem Küchentisch, eine Israel-Fahne.

„Dose, was...?“

„Ich war Mitglied in der NPD“, sagte er. Er wich meinem Blick aus, starrte auf seine Schuhe.

„Offensichtlich warst du das. Aber warum die Israel-Flagge?“

„Ach, letztes Jahr auf dem Christopher Street Day, da habe ich so Juden kennengelernt, die waren super. Wir haben den ganzen Tag zusammen gefeiert, das war echt schön. Die Fahne haben sie mir als Erinnerung mitgegeben. Du denkst doch nicht, ich hätte was gegen Ausländer?“

„Warum hängt hier sonst überall diese Fratze?“

Wir setzten uns an den Küchentisch.

Das Treffen mit den Eltern

Das mit der NPD, seine politische Zeit, wie Dose sie nannte, begann, als er mit dem Alleinsein nicht mehr zurechtkam. Er saß viel vor dem Fernseher, und was er dort in den Nachrichten sah, all diese Kriege, das Unrecht, die Tierversuche, das machte ihn fertig. Er dachte, man müsste das alles ganz anders machen, und als er die von der NPD kennenlernte, meinten die, sie würden auch alles ganz anders machen wollen. Das habe ihm gefallen. Sie sagten, er müsse ihnen unbedingt helfen. Gemeinsam könnten sie etwas erreichen.

Es ging allerdings erst einmal mehr darum, gemeinsam zu trinken und über dies und das zu reden. Kam das Gespräch doch mal auf Politik, habe ihn das belastet und überfordert, erzählte Dose. Irgendwann ging er lieber wieder in den Zoo.

„Aber manches von der NPD ist halt schon richtig“, sagte er.

„Und was bitte?“, fragte ich.

Wir diskutierten bestimmt zwei Stunden. Dose vertrat einen Standpunkt irgendwo zwischen Pazifist und nachgeplapperten NPD-Parolen. Ich vertrat den Standpunkt, dass sein Standpunkt keinen Sinn ergibt. Irgendwann las ich ihm das Parteiprogramm der Linken vor, dann das der Tierschutzpartei. Man sah Dose an, dass er zweifelte, aber er blieb ein sehr stolzer Mann – und hielt dagegen.

Ein paar Tage später schrieb er mir eine Mail: „Hallo, ich habe nochmal über etwas nachgedacht. Du hast gefragt, ob ich nicht doch noch hoffe, dass alles besser wird. Wenn ich so überlege, ist da vielleicht noch Hoffnung und ich versuche nur sie wegzudrücken, damit ich nicht enttäuscht werde. Andererseits habe ich auch nichts zu verlieren. Ich meine, wenn ich es noch einmal versuche, schadet es ja auch nichts. Ich glaube aber, dass ich es diesmal anders angehen muss. Vielleicht hast du ja bald mal Zeit und Lust herzukommen? Ich würde dir gerne was zeigen.“

Als ich kurz darauf seine Wohnung betrat, war die Küchentür auf und Hitler fort. Auch die NPD-Flaggen, auch die Plakate. Als ich fragte, ob es das sei, was er mir zeigen wollte, winkte er ab, den Kram habe er schon lange wegschmeißen wollen. Nein, was er zeigen wolle, sei draußen.

Natürlich freute es mich, dass er sich von Hitler verabschiedet hatte. Aber etwas in diesem Moment beunruhigte mich auch. Ich hatte Einfluss genommen, und es war zu leicht gewesen.

Vor der Tür setzte sich Dose auf den Asphalt des Bürgersteigs. Es war wärmster Sommer. Die Straße runter stand ein Haus, die Nummer fünf, er zeigte darauf und erzählte, wie er beobachtet habe, dass dort jemand ausgezogen sei. Die Wohnung sei etwas kleiner als seine, nur 48 Quadratmeter, dafür frisch renoviert. Es sei die Gelegenheit, es diesmal richtig zu versuchen mit dem Leben. Ein klarer Schnitt. Er wolle richtig ausmisten, packen und sich nicht mehr belügen. In der alten Wohnung sei es zu leicht geworden aufzugeben.

Er lehnte sich zurück, streckte das Gesicht in die Sonne, schloss die Augen und träumte.

„Dann bringe ich irgendwann eine Frau mit zu mir, und die erschrickt dann gar nicht, wenn sie mein Zuhause sieht. Morgens wache ich neben ihr auf, abends gehen wir vielleicht mal auf ein Konzert. Wir könnten Haustiere haben, vielleicht einen Hund oder eine… Guck! Die Schwalben!“

"Noch etwas Brokkoli?"

Wenig später besuchten wir seine Eltern. Dose hatte mich gewarnt, die beiden verstünden nicht ganz, was das mit der Journalistin solle. Er saß vor Kopf und stocherte in seinem Essen. Es gab Lachs und Kartoffeln. Der Vater saß Dose schräg gegenüber und sprach außer „Hallo“ kein Wort. Sein Blick richtete sich rechts über die eigene Schulter, da lief stumm der Fernseher, und Maria Scharapowa gewann im Tennis. Zum Tisch drehte er sich nur, um die Gabel neu zu beladen.

Doses Mutter brachte den Brokkoli aus der Küche. Eine zierliche, zuvorkommende Frau. Sie hatte sich extra die guten Ohrringe angelegt.

Dose verkündete, dass er sich für die Wohnung beworben habe.

„Oh“, sagte seine Mutter. „Und du glaubst, das ist wirklich das Richtige?“

„Warum nicht?“ Doses Ton war trotzig.

„Die Wohnung ist bestimmt schön, aber ich weiß nicht, ob dich das glücklicher macht. Vielleicht wäre es besser, wenn du zu einem Psycho…“ Dose fiel ihr ins Wort. „Was soll mir denn ein Psychodoktor helfen?“ Er wurde lauter. Irgendwann schrie er. Dass er doch wohl am besten wisse, was ihm helfen würde. Dass es anders sei diesmal. Wirklich anders. Doses Mutter sah aus, als höre sie das nicht zum ersten Mal. Vorsichtig versuchte sie, dazwischen zu kommen. „Ich mache mir doch nur Sorgen...“ Aber Dose hatte sich längst in Rage geredet. Hilflos schaute seine Mutter zum Vater. Der schaute zu Maria Scharapowa.

Ich erinnere mich, wie verschämt sie dann zu mir blickte. Sie hatte sich darauf vorbereitet, einen guten Eindruck zu machen, hatte gekocht und den Tisch mit Blumen und Kerzen gedeckt, hatte sogar die Alben mit Doses Babyfotos daneben gelegt. Aber die Männer spielten nicht mit. Der eine schrie, der andere tat so, als wäre er nicht da. Sie versuchte, es mit Höflichkeit zu kompensieren: „Noch etwas Brokkoli vielleicht?“

Als ich das nächste Mal bei Dose war, saß er im Wohnzimmer auf der großen, grauen Couch und starrte die Wand an. Sie war jetzt weiß, etwas abgewetzt, ein paar Kleberreste hingen noch. Dose hatte es nicht abwarten können, es hatte ihn in den Fingern gejuckt. Er zündete sich eine Goldfield an, brach den Filter ab, wie er es immer machte. „Befreiend“, sagte er und nickte Richtung Wand. Dann stand er auf, setzte sich auf den Sessel gegenüber und blickte die Wand hinter der Couch an. Die war die alte geblieben. „Nee“, sagte er und wechselte wieder.

Ich war beeindruckt, was er alles angegangen hatte in den wenigen Wochen. Er drückte mir eine Liste in die Hände, auf der er alle kostenlosen Veranstaltungen notiert hatte, die im Sommer und Herbst in Berlin stattfanden. Er wollte überall hin. Leute kennenlernen. Hatte sich sogar T-Shirts bedrucken lassen. „Was nützt die Liebe in Gedanken?“, stand auf einem. „Sieht mich jemand?“, auf einem anderen. Man muss nun mal auffallen in dieser verfluchten Stadt der Singles.

„Weißt du, ich war heute am Teich hier in der Nähe“, sagte Dose. „Selbst der Reiher ist nicht mehr alleine. Der, der immer da ist, saß oben auf der Weide, und ein anderer kam dicht zu mir geflogen. Das muss doch ein Zeichen sein.“

Dann kam der Kopfschmerz zurück

Dann, eine Woche später, kam der Cluster-Kopfschmerz zurück. Dose litt schon länger an dieser Krankheit, aber in den letzten Jahren waren die Beschwerden weg gewesen. Nun kamen sie so stark zurück, als müssten sie gutmachen, was sie verpasst hatten. Dose blieb Wochen im Bett. Die Sauerstoffflasche rechts im Arm, links auf dem Nachttisch die Tabletten, Augen zu, Licht aus.

Als er irgendwann die Kraft aufbrachte, sich bis zum Briefkasten zu quälen, fand er darin die Absage für die Wohnung. Er brach zusammen. Ein paar Tage hörte ich nichts von ihm, was ungewöhnlich war. Dann kam eine Facebook-Nachricht, nachts um 4.06 Uhr:

Ich weiß nicht mehr weiter, ich will wirklich nur noch sterben. Ich hasse dieses sinnlose Drecksleben so dermaßen und weiß keinen anderen Rat mehr.

Machs gut

Dose

Ich las die Nachricht gegen acht Uhr morgens. Ich las sie ein zweites Mal. Dann ein drittes.

Ich schrieb ihm eine Mail, dass er sich bitte melden solle. Dose hatte kein Handy. Ich schrieb ihm bei Facebook, sah, dass er seit vier Uhr nicht mehr online gewesen war.

Machs gut. Warum Machs gut?

Ich rief den Notruf an, ein unfreundlicher Polizist verwies mich ans Bürgertelefon. Ich rief das Bürgertelefon an. Ein freundlicher Polizist regte sich über den unfreundlichen Kollegen auf. Wenn das kein Notfall sei, was dann? Ich entgegnete, dass ich mir ja selbst nicht sicher sei. Er bat mich, Doses Nachricht einmal vorzulesen, hielt kurz inne, fragte, ohne dass ich was gesagt hatte: „Schreibt er das sonst auch so: Machs gut?“

Plötzlich hatte ich Panik.

„Wir fahren hin“, meinte der Polizist.

Und irgendwann war er weg

Es dauerte 57 Minuten, bis mein Handy klingelte. Entwarnung. Sie sagten, sie hätten ihn in einer suizidalen Situation aufgefunden, aber es sei nicht zum Äußersten gekommen.

Eine Stunde später meldete sich Dose. Er schrieb eine Nachricht, in der er sich über irgendeinen Mann aufregte, der seine Fußballschals kaufen wollte, er schrieb das so, als hätte ich nicht gerade die Polizei zu ihm geschickt. Erst als ich nicht locker ließ, schrieb er, er sei doch eh zu feige dafür. Er glaube, er habe damit Frust ablassen wollen, aber die Menschen verstünden ja alles falsch.

Meine nächste Mail war lang und wütend. Er müsse sich bewusst machen, was eine solche Nachricht auslöse. Welche Sorge. Was würde er denn bitte machen? Nicht die Polizei rufen? Und wenn dann doch etwas passierte?

Er brachte einen Porzellanelefanten zu unserem nächsten Treffen mit. „Ist doch dein Lieblingstier, oder? Du hast doch immer diese Kette mit dem Elefantenanhänger um.“

In den kommenden Monaten spielten wir viel Kniffel und sprachen viel über den Tod. Dose liebte Kniffel. Er erzählte, dass sein erster Selbstmordversuch vor vielen Jahren eine Kurzschlussreaktion auf einen Streit gewesen sei. Als er glaubte, den Tod bereits spüren zu können, packte ihn die Angst. Bloß nicht sterben. Er rief den Rettungswagen, lief blutend auf die Straße und sagte den Menschen, er habe sich am Fenster verletzt.

Als seine Eltern ihn später im Krankenhaus besuchten, fragte seine Mutter: „Was machst’n so ’ne Scheiße?“ Und Dose schämte sich so.

Er stand danach noch dreimal an der Schwelle. Einmal warf er einen Föhn in die Wanne und direkt wieder raus, er stand auf einem Hochhaus, konnte aber nicht springen, und das Mal, als ich die Polizei rief, da hatte er Tabak in einem Glas Wasser gelöst. Doch er trank nur einen Schluck.

„Weißt du“, sagte Dose, während er eine große Straße würfelte und ich den Kniffel strich, „nach dem ersten Mal mit den Pulsadern war die Lebenslust wieder da. Alles war plötzlich klar und einfach.“ Er zündete eine Zigarette an. Dann sagte er: „Ich weiß manchmal selbst nicht, ob ich nur wieder dieses Gefühl will oder wirklich sterben.“

Mein Email-Eingang entwickelte sich in dieser Zeit zu so etwas wie Doses digitalem Tagebuch. Jeden Tag erhielt ich eine minutiöse Beschreibung seines Alltags, mindestens eine DIN-A4-Seite lang. Er listete jede Kopfschmerzattacke auf, bewertete sie auf einer Schmerzskala von eins bis zehn. Er schickte Videos von Tieren, die ihn berührt hatten. Und Songs von Björk, die ihm Halt gaben.

Ich antwortete jeden vierten Tag.

Manchmal, wenn wir uns sahen, alle paar Wochen einmal, brachte ich ihm Broschüren von Psychologen oder Selbsthilfegruppen mit, ich schnitt Texte aus, in denen Menschen berichteten, wie schwer es für sie war, eine Therapie zu beginnen, und wie gut, als sie sich endlich darauf einließen. Er tat das alles ab, aber das war okay, ich wusste ja, dass er das nicht einfach annehmen würde, so war er. Ich hoffte, dass er irgendwann ankommen würde, um es mir als seine Idee zu verkaufen.

An anderen Tagen saß er kopfschüttelnd da und weinte. „Es liegt an mir. Ich bin ein totaler Versager“, sagte er dann oft.

Dann wieder schwieg er nur.

Erst im Winter kam sein Lächeln zurück. Er war zum Spielen vorbeigekommen, bei ihm war es zu kalt für ein Treffen, er hatte die Heizung letzten Monat nicht bezahlen können.

„Boah, ich muss dir was zeigen“, sagte Dose und holte seine Kamera raus. „Als ich aus der S-Bahn ausgestiegen bin und die wegfuhr, waren 20 Ratten in den Gleisen. Die liefen da rum und hatten ganz sauberes Fell. So was Schönes.“

„Dose, geht’s dir etwa besser?“, fragte ich.

„Anders“, sagte er.

„Ist anders was Gutes?“

„Ja, ich sehe diese kleinen Sachen wieder. Und ich hatte ein Aha-Erlebnis. Aber leicht ist es noch nicht.“

Ein Aha-Erlebnis im Jobcenter

Mit dem Aha-Erlebnis meinte er eine Begebenheit im Jobcenter. Sie hatten ihn mal wieder vorgeladen, weil er sich nicht für Jobs bewarb. Als er in das Zimmer kam, saß da eine neue Sachbearbeiterin. Er setzte sich hin und fing sofort an, sie mit Rechtfertigungen zu überschütten. Die Kopfschmerzen. Die Einsamkeit. Die Traurigkeit. Aber anders als andere verdrehte diese Frau nicht die Augen, sie schimpfte auch nicht oder drohte mit Kürzungen. Sie sagte nur: „Beruhigen Sie sich erstmal. Das macht doch alles nichts. Selbst wenn Sie in zwei Jahren noch keine Arbeit haben, ist das okay. Sie müssen sich jetzt erstmal um sich und ihre Gesundheit kümmern. Den Rest regele ich.“ Dose hätte sie am liebsten geküsst.

Auf dem Weg nach Hause kam er zufällig an einem Treffpunkt für psychisch kranke Menschen vorbei. Er ging hinein. Sie sagten ihm, bei ihnen gehe es nicht gleich darum, über Probleme zu reden. Wichtig sei, überhaupt das Haus zu verlassen und wieder etwas zu unternehmen. „So geil“, sagte Dose. Jeden Donnerstag sei um 13.30 Uhr Spieletreff, und später gebe es eine Gruppe „Kreatives Fotografieren.“ Er wollte jede Woche hin.

„Eins noch: Ich dachte mir, wenn ich schon Teil dieser Gruppe von Verrückten bin, dann kann ich auch zu einem Psychologen gehen. Magst du vielleicht mitkommen?“

An einem eiskalten Wintermontag holte ich ihn ab. Es war neun Uhr morgens, Dose kam aus seinem Bad gestolpert. Er hatte seinen Ausgehpulli angezogen, einen mit Norwegermuster, der alle Tattoos verdeckte. „Wie sehe ich aus?“

„Bestens!“, sagte ich.

„Beängstigend?“

„Weniger als sonst.“

Er grinste, guckte auf die Uhr, neun Minuten noch. Er wollte einen guten Eindruck machen.

Das Wartezimmer der psychologischen Praxis war voll. Dose saß nach vorne gebeugt, Kopf auf den Händen, Arme auf den Knien. Er holte drei Din-A4-Blätter aus seiner Jackentasche, er hatte alle seine Probleme in eine Mindmap gepackt, es waren einfach zu viele, er hatte Angst, etwas zu vergessen. Wie er da saß, so verloren, wie er alles noch einmal durchging, als wäre er wieder in der Schule und müsse gleich ein Referat halten, wie er jedes Mal mit angsterfüllten Augen hochblickte, als eine Schwester das Wartezimmer betrat – er hatte etwas von einem kleinen Jungen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter.

„Dose. Das wird schon.“

„Meinst du?“

„Ja!“

„Sicher?“

Dann wurde sein Name aufgerufen. Er ging in das Zimmer, das spärlich möbliert war: eine Liege, ein Stuhl, eine Packung Taschentücher griffbereit, eierschalenfarbende Gefühlsneutralität. Dose setzte sich erst auf die Liege, dann auf den Stuhl. Die Psychologin, Ende 30, braune Haare, lächelte freundlich. „Warum sind Sie denn hier?“

Dose fing seinen ersten Satz fünfmal an, seine Stimme überschlug sich, er holte seine Zettel raus, erklärte, er habe sich Stichpunkte gemacht, kriegte dann endlich die Kurve und fing an aufzulisten. Erst die Probleme, die Cluster-Kopfschmerzen, die Frau, die es nicht gibt, die Wohnung, die Selbstmordversuche, die Traurigkeit. Dann alles noch einmal chronologisch. Er redete so schnell, bald waren es 15 Minuten, und die Psychologin beugte sich schon nach vorne, bereit ihn zu unterbrechen, hätte er nur einen Moment innegehalten. Sie berührte sogar seinen Arm. Sah er das denn nicht? Es waren jetzt 30 Minuten.

Irgendwann nahm sie ihm die Zettel aus der Hand, atmete einmal tief durch und sagte: „Sie haben mir aber viele Probleme.“ Sofort könne sie da gar nichts machen. Sie schlug eine wöchentliche Therapie vor. Ende Januar werde ein Platz frei, dann solle er bitte wiederkommen.

„Ach, und noch eins: Sie müssen versuchen die Selbstmordgedanken positiv zu sehen. Es bedeutet etwas, dass sie noch nicht tot sind. Und zweitens ist dieser Gedanke, dass es immer noch eine Möglichkeit gibt, auch eine Erleichterung, aus der man Kraft ziehen kann.“

Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen

In der S-Bahn nach Hause sagte Dose, er hätte schon viel früher kommen sollen. Als wir uns verabschiedeten, umarmte ich ihn, zum ersten Mal, ein bisschen aus Stolz, ich war mir sicher, dass er auf dem richtigen Weg war.

Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen.

Ich war wenig da in den nächsten vier Monaten, aber was er mir schrieb, klang wunderbar. Nur noch selten schien es schlechte Tage zu geben.

Durch eine neue Kleinanzeige bei Ebay hatte er eine Frau aus Potsdam kennengelernt. Er sagte, sie sei vielleicht nicht die hübscheste, aber wenn er ihr etwas erzähle, dann verstehe sie ihn wie niemand sonst. Und er verstand sie.

Er war sich noch nicht sicher, ob es wirklich etwas werden würde, aber er hatte sie sogar mit in die Wohnung genommen, und trotzdem seien sie sich näher gekommen.

Er fand eine Arbeit als Gärtner auf einem Friedhof. Am 25. April fasste er mir seine ersten elf Tage dort zusammen. Im Großen und Ganzen gefiel es ihm sehr gut, nur die Sicherheitsschuhe hätten zu Beginn etwas gedrückt, aber das sei ja harmlos. Die Kollegen seien sehr nett zu ihm, die Luft tue seinen Kopfschmerzen gut, und während er das Laub harke, könne er Eichhörnchen, Vögel und Feuerwanzen beobachten.

Es war die letzte Nachricht, die er mir schrieb.

Am 28. April 2015 lud Dose ein Video auf Facebook hoch. 3.48 Minuten. Es zeigt Bilder von ihm. Das letzte war ein Tattoo, das ich noch nicht kannte, ein Schriftzug: „Was nützt die Liebe in Gedanken.“ Drei Tage später, am 30. April 2015, nahm sich Dose das Leben.

Es dauerte, bis ich davon erfuhr. Ich wunderte mich nach ein paar Wochen, dass keine Nachrichten mehr kamen. Dann ging ich auf seine Seite, sah das Video und einige wenige R.I.P-Kommentare darunter. Alles, was ich später herausfand: Dose hatte in den Wochen zuvor seine Therapie wieder abgebrochen, die Frau und er hatten sich getrennt. Ich schrieb die Freunde an, die er noch auf Facebook hatte, aber keiner schien mehr zu wissen, keiner hatte in diesen letzten Tagen etwas von ihm gehört. Mit den meisten war der Kontakt schon lange eingeschlafen, und die wenigen, bei denen es nicht so war, wunderten sich: Er redete doch sonst immer über seine Gefühle. Und dann ging er einfach so, ohne einen Laut?

Irgendwann, vielleicht fünf Monate nach unserem ersten Treffen, fragte mich Dose, ob ich seine Geschichte überhaupt noch aufschreiben wolle. Ich sagte: „Ach, ich weiß nicht. Bei all dem Kuddelmuddel hier, was erzähle ich da? Du musst deinem Leben mal einen roten Faden geben, mein Lieber.“ Er lachte. Und sagte: „Eigentlich ist das doch was Schönes. Weil: Wir treffen uns halt trotzdem. Das ist nicht nur für einen Text.“

Er hatte recht. Es war schon sehr bald nicht mehr nur für einen Text. Ich weiß nicht, ob wir Freunde waren, mir scheint das etwas zu viel.

Es war ein paar Monate nach seinem Tod, als ich eine Maus durch eine Kneipentür entwischen sah und dachte: Das hätte Dose jetzt gefallen. Aber er konnte sie ja nicht mehr bemerken, sein Gesicht konnte nicht mehr sanft werden, nicht zuversichtlich, kein leises Lächeln mehr von ihm.

Weil er all das nicht mehr konnte, habe ich das in dem Moment für ihn übernommen.

Machs gut, lieber Dose.

Dieser Text erschien am 29. Oktober 2016 in der Tagesspiegel-Beilage Mehr Berlin und war online ab 27. November 2016 verfügbar.

Lena Niethammer

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