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Berlin: Sylvia Thimm (Geb. 1946)

„Also der Bowie, dit is ja nur so’n janz Kleener! Aba nett issa, dit schon!“:

Sylvia sehnte sich nach Harmonie, nach klaren Verhältnissen. In den Kneipen, in denen sie arbeitete: die Bestecke, die Zigaretten, Gläser, Flaschen – alles am richtigen Ort. Wehe, jemand brachte was durcheinander! Und weil sich Sylvia so nach Harmonie sehnte, konnte sie äußerst kratzbürstig werden. Wen sie nicht leiden konnte, machte sie zur Schnecke. Mit Blicken, Gesten, mit ihrer frechen Schnauze. Oder sie strafte mit Missachtung, bediente einfach nicht. B. Z.-Leser und solche Typen, „nee weeßte!“

Jahrzehnte hat Sylvia in ihrem Schöneberger Kiez gelebt und gearbeitet. Kleine Wohnung, billige Miete, Grunewald-, Ecke Goltzstraße, überm Taxistand. Der „Felsenkeller“ war hundert Meter entfernt, die Kneipe, in der sie jahrelang gearbeitet hat. Nach der Felsenkeller-Schicht zog sie oft noch um die Häuser. Fernet Branca war ein Lieblingsgetränk, der „Pinguin Club“ in der Wartburgstraße ein Lieblingslokal. Da konnte sie noch ganz spät hin. Oder ganz früh, je nach Perspektive. In der Nachtbar hatte sie die besten Jahre verbracht. Die lagen ein Vierteljahrhundert zurück. „Mensch, wie die Zeit verjeht! Dit jib’s ja ja’nich!“ Sie war „die Chefin“ hier, als der Laden noch „Harlekin“ hieß und sie hinterm Neon-Tresen stand, in einer Kulisse zwischen Autoscooter-Stehtisch, Chevrolet-Bänken, Radkappen und Nummernschildern amerikanischer Straßenkreuzer, Fotos von Elvis, Eddie, Gene und Jerry Lee. Eigentlich fand sie den Plunder gar nicht toll, hatte es nicht so mit Amerika. Das war mehr Bernds Ding, Bernd Feuerhelm, ihr Freund damals.

Sylvia stand auf deutsche Schlager. Sie kam aus dem Osten, Berlin-Schöneweide. Da ist sie aufgewachsen bei Pflegeeltern, hat sich wohlgefühlt. Bis ihre Mutter auftauchte, aus Rumänien kam und Sylvia nach Düsseldorf holte. Sylvia war dreizehneinhalb. „Da fing der Budenzauber an“, sagte sie später. „Ick kannte die ja‘nich’ und ick mochte die ooch nich. Die war so streng.“ Und weil die Mutter die Tochter nicht zähmen konnte, verfrachtete sie sie in ein katholisches Internat. „Wunderbar. Primstens. Die Mädels, die mit mir da uffjewachsn sind, sind denn zum Teil Prostituierte jeworden. Die eine hat’n Kind jekriegt, dit hatse gleich erwürgt! Allet so’ne Dinger!“

Die Geschichte von ihrem eigenen Kind hat sie kaum erzählt. Bei dem Thema ist die Sylvia mit der großen Klappe immer ganz still geworden. „Mein Leben is janz schön verwurschtelt“, hat sie gesagt.

Nach einer Lehre bei „Heinemann“ in der Düsseldorfer Königsallee, drei Jahre Damenoberbekleidung, Badeanzüge, Wäsche, hat sie einen Spanier kennengelernt in einer Nachtbar. „Der war janz schwarzhaarig, hatte lange Wimpern und blaue Augen. Ick hab jedacht: Der sieht aus wie Tony Curtis. Kannste dir ja vorstell’n wie bescheuert ick war.“ Der Spanier heiratete Sylvia, weil sie ein Kind von ihm bekam. So war das damals. „Vierzehn Wochen warn wa vaheiratet. Denn bin ick abjedampft.“ Wie sich rausstellte, war er schon in Spanien verheiratet und hatte drei Kinder. So war das damals auch. Ihr Kind hat Sylvia dann im Kloster abgeliefert, so hat sie es mal erzählt. Ob es so war? Später hat sie’s nicht mehr erzählt. Das Kind war ein wunder Punkt. Eine Narbe, die blieb.

1967, Sylvia war gerade 21, zog sie das Heimweh nach Berlin. West-Berlin allerdings war ihr weniger vertraut, eigentlich gar nicht. In den Osten konnte sie ja nicht mehr. Zuerst arbeitete sie im „Pan-Club“, Wielandstraße, gleich am Ku’damm: „Hinten ’ne schwule Bar und vorn die Nutten und Zuhälter. Da jab’s öfter mal Keilereien und Schießereien. Um Jeld und Beschützersachen. Und denn kam eena aus Hamburg. Die haben sich fürchterlich jeschlagen. Da flogen die Tische hinter meine Bar. Und mir jejen’ Schädel.“

Untergekommen ist sie in einer Kommune in der Kleiststraße. Wo auch Volker Hombach wohnte, Flötist und Geiger der Acid-Rock-Band „Tangerine Dream“, die abends in der Wohnung probte. Weil sie alle noch Studenten waren und kaum Geld hatten, trug Sylvia zum Auskommen bei mit ihrem neuen Job im „Hähnel Eck“ in Friedenau. Irgendwann sagte der Tangerine-Dream-Organist Edgar Froese, das „Mister Go“ in der Yorckstraße sei ein guter Laden: Freaks und gute Musik. Und Sylvia fing im „Mister Go“ an zu jobben.

Bis Bernd Feuerhelm aufkreuzte, Rock ’n’ Roller, Dressman, weißer Anzug. Sylvia jedenfalls gefiel er. Und sie gefiel ihm, wie sie da so tanzte im zuckenden Strobe- Light. Das Datum hat er bis heute nicht vergessen: 14. Juni 1968.

Eine Zeitlang lebten sie zusammen in Sylvias Ladenwohnung in der Eisenacher Straße. Der Antiquitätenhandel, den Feuerhelm dort betrieb, reichte kaum aus, ihn selbst zu ernähren, und Sylvia arbeitete wieder in ihrem Beruf als Verkäuferin für Damenwäsche. Bei Bilka am Kottbusser Damm hat sie es bis zur Abteilungsleiterin gebracht. Sie erzählte gerne eine Geschichte, weshalb sie da rausgeflogen sei: Eine Kundin mit üppiger Oberweite habe sie zur BH-Anprobe eine Etage höher geschickt, „in die Zeltabteilung“.

Dann kam noch so ein Datum, das Bernd nie vergessen wird: der 1. Mai 1980. Da eröffnete er mit Sylvia das „Harlekin“ in der Wartburgstraße. Das „Harlekin“ wurde ihr „Rock ’n’ Roll-Wohnzimmer“. Punks, Rock ’n’ Roller, New Waver, Leute von „SF-Beat“ und „Rias-Treffpunkt“, Lebenskünstler. Und die ganzen Musiker, Ideal, Interzone, Escalatorz, PVC, Unlimited Systems, Lindenberg, Bowie, Falco. Und die Glotzer, die kamen, um zu gucken. Wie im Zoo.

Bernd legte seine Platten auf, und Sylvia ging auf in ihrer Rolle als „Chefin“, zapfte Bier, immer die Kippe im Mundwinkel, ein Auge zugekniffen. Und sie lachte und erzählte: „Also der Bowie, weeßte ja, kennste ja, Mensch ehrlich, da war ick janz enttäuscht, wie der dit erste Mal uffjekreuzt is. Dit is ja nur so’n janz Kleener! Aba nett issa, dit schon!“

Und wenn einer der Berliner Musiker seine Zeche bezahlen wollte, sagte Sylvia oft genug: „Och, lass ma jut sein. Du hast dit ja ooch nich so dicke, mein Kleena. Dit hol ick mir schon zurück von den’, die’t haben, Bowie, Lindenberg und so’ne Typen. Weeßte ja, kennste ja.“ Sylvias soziale Ader, ihre Vorstellung von Umverteilung. Eigentlich gefiel Bernd das auch, aber ihm brach doch gelegentlich der Angstschweiß aus.

1983 war Schluss mit dem „Harlekin“. Bernd verließ Sylvia wegen einer anderen. Später besuchte er sie noch im „Mocca Faux“ in der Grunewaldstraße. Aber Sylvia konnte die Kränkung nicht überwinden und zeigte Bernd jetzt die kalte Schulter. Wie auch später allen anderen Kerlen. Ihre Liebe und Zuwendung galt nur noch ihren Katzen. Verletzten, zugelaufenen, ausgesetzten Katzen. Es waren mal acht Stück in ihrer Wohnung. „Die soll’n ja ooch leben, meine Kleen’.“ Und wie man den Katzen mehrere Leben nachsagt, begann auch Sylvia immer wieder neue Leben. Und blieb immer die Alte: Die Kleine mit der großen Schnauze und dem kleinen Budget und dem großen Herzen für alle, die noch weniger hatten als sie. Die Einsamen und Gestrandeten, die sie aufmunterte, mit denen sie soff und rauchte. Und die sie jedes Jahr einlud zu sich nach Hause, zum großen Weihnachtsessen, Gans, Rotkohl, Knödel.

Sieben Jahre gab sie im „Felsenkeller“ ihre Lieblingsrolle, „die Chefin“, auch wenn sie’s gar nicht war, gab gerne mal einen aus, wie sie auch selber so gerne was geschenkt bekam. Wie die sich über Geschenke freuen konnte! Nur Bares Geld durfte man ihr nicht geben. Das hat sie sofort um die Häuser getragen.

Und noch ein neues Leben gab es für Sylvia. Sie, die das Theater so liebte, das Theater des eigenen Lebens, die Selbstinszenierung, wie auch die große klassische Theaterkunst, sie schaffte es tatsächlich noch ans richtige Theater: Berliner Ensemble, Schiffbauerdamm. Als Garderobiere, also wieder: „Chefin“. Im Foyer begrüßte sie die Theatergäste mit großer Geste. Und in der Kantine kannte sie jeder: vom Kulissenschieber bis zum Intendanten. Das hat ihr gefallen. Auch, dass sie im Wilmersdorfer „Schoeler-Schlösschen“, das zu einem kleinen Theater umgebaut werden sollte, die Gastronomie übernehmen sollte.

Das war so um die Zeit, als sich Sylvia im Spiegel ansah, erschrak und fragte: „Sieht so der Krebs aus?“ Sie wurde immer weniger, dünner, schwächer. Bis ihre Freundinnen sie rund um die Uhr pflegen mussten. Sylvia wollte, dass die Fenster weit auf waren, dass ihre Seele nach draußen fliegen konnte.

Mehr als hundert Menschen sangen auf dem Schöneberger Dorffriedhof: „So schön war die Zeit“, Sylvias Lieblingslied. H. P. Daniels

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