zum Hauptinhalt
Mit Autonomen-Flagge. Sven ist 37 und betreibt den „Disorder-Laden“ in der Mariannenstraße. Er hat nichts gegen Touristen, nur zu viele dürfen es nicht sein.

© Kai-Uwe-Heinrich

Szenebezirk: Wer regiert Kreuzberg?

Zwischen Touristen, Linken und Investoren – im Szenebezirk wirken ganz unterschiedliche Kräfte. Alteingesessene spüren: Der Ansturm frisst den Mythos.

Wenn das keine Erfolge der linken Szene sind: Mehr Menschen denn je liefen bei der revolutionären 1.Mai-Demo mit – erfunden in Kreuzberg, exportiert in den Wedding. Die „Gentrifizierung“ ist weit über die linke Szene Kreuzbergs hinaus zum Kampfbegriff geworden. Im Streit um das BMW-Guggenheim-Lab waren linke Aktivisten schnell und entschlossen genug, um die Lab-Planer nachhaltig zu erschrecken. Das Ergebnis eines ruppigen Auftritts bei einer Lab-Werbeveranstaltung in Kreuzberg: Die schicke Debatten-Plattform wird nicht in Kreuzberg errichtet, sondern in Prenzlauer Berg. Die Brache an der Schlesischen, Ecke Cuvrystraße, auf der das Lab stehen sollte, bleibt frei und alltäglich frei befeierbar. Der Kreuzberger Polit-Frühling zeigt: Robust und wach wie lange ist der Widerstandsgeist gegen alles, was nach Kapital, Aufwertung, Hauptstadt-Hype aussieht. Der Mythos lebt. Das „Wir-sind-anders“-Gefühl gibt die politische Richtung vor.

Bilder aus der Oranienstraße:

Doch der Eindruck täuscht. Die Frage, wer – oder was – den Stadtteil an der Spree regiert, ist nicht so leicht zu beantworten. Anderswo in Berlin, in Reinickendorf zum Beispiel, mag der Bezirksbürgermeister als politischer Repräsentant und Richtungsgeber funktionieren. Franz Schulz, Bezirksbürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg, würde nie von sich behaupten: Die Politik bin ich. In Kreuzberg wirken die verschiedensten Kräfte, schon seit den Zeiten der Studentenbewegung, spätestens seit den frühen Achtzigern, als Hausbesetzer, Genossenschaftler, Reformer des eigenen Lebens, Künstler und Punker den Bezirk am Ende West-Berlins bezogen. Davon ist einiges geblieben, was weiterwirkt und Kreuzberg vital, anders, erfinderisch und mythenträchtig erscheinen lässt. Doch genau das, dieses Andere an und in Kreuzberg, sehen viele, die es mit entwickelt haben, heute bedroht: nicht durch Touristenmassen und Rollkoffer-Staus, auch nicht allein durch zahlungskräftige Mieter, die unbedingt in SO 36 wohnen wollen. Doch beides wirkt zusammen und wertet die Gegend auf, die großen Bauprojekte an der Spree kommen dazu.

Auf der Suche nach dem Kreuzberger Lebensgefühl

Der Hype frisst den Mythos auf. Junge Leute, die zum Beispiel auf der Oranienstraße daran verdienen, dass Kreuzberg so trendy ist, sprechen trotzdem von „Ausverkauf“. Ein älterer Geschäftsmann demonstriert mit seinem Handy, was ihn, der die Gegend seit den frühen Achtzigern kennt, an den Touristenströmen nervt. Er tut so, als betrete er wie ein Kunde seinen Second-Hand-Laden, sagt nicht mal Hallo, hält dabei das Telefon hoch, tut, als fotografiere er das altmodische Ambiente, dreht sich um und geht ohne ein Wort. Die Leute, das will er sagen, behandeln Kreuzberg wie einen begehbaren Mythos.

Seismograf des Wandels. Pfarrer Stefan Matthias von der Taborkirche.
Seismograf des Wandels. Pfarrer Stefan Matthias von der Taborkirche.

© Zinken

Die kreative Polit-Aufkleber-Szene hat am Mariannenplatz „Stop Artistification“ geklebt. Auf dem Sticker tritt eine schwarze Silhouette kunstvoll eine andere. Darunter steht: „gegen Schnösel“. In einem Klamottenladen zeigt eine Jungmann-Schaufensterpuppe braune Bermudas – mit Hosenträgern. Das krude Miteinander aus modischem und subkulturellem Kreuzberg zeigt sich längst in der Warenwelt. Sven trägt eine schwarze Sportjacke, betreibt den „Disorder“-Laden in der Mariannenstraße und ist froh, dass er dort keine „Berlin“-T-Shirts verkaufen muss, wie er sagt. Beim ihm gibt es eher schwarze und schwarz-rote Mode, die schwarz-rote Autonomen-Flagge kostet 13 Euro. Sven ist 37 Jahre alt, seit 1991 kennt und mag er Kreuzberg.

Bilder aus der Wrangelstraße:

Sein Laden, mit dem er trotz des Booms und der Interessen vieler Jungtouristen an düsteren Kreuzberg-Memorabilien nicht das große Geld verdient, ist sein Büro. Hier kann er Aufträge als Grafiker annehmen. Der Laden, sagt Sven, „funktioniert nur so in Kreuzberg“: Form und Inhalt, Stil und Botschaft passen zusammen. Sven – von einer Freundlichkeit, die einem im linksalternativen Kreuzberg öfter als anderswo in Berlin begegnet, lebt mit dem Hype, aber in Zusammenhängen, die er als alternativ und anders beschreibt. Es gebe, sagt er, durchaus noch das Geflecht aus Werkstätten und Betrieben, in dem es weniger auf Gewinn als auf gleichberechtigtes, entspanntes Arbeiten ankommt – die „Kollektive“, die „Verankerung in Nachbarschaften“. Sein Laden befinde sich in einem Genossenschaftshaus, fernab vom freien Markt, wie er sagt. Sven gehört zu den Leuten, die das andere Kreuzberg in Betrieb halten. Am 1. Mai hat er an der „Barrio“-Bühne der Antifaschisten mitgearbeitet. Doch macht er aus seinem Lebensgefühl keine Ideologie. „Es muss nicht alles so bleiben“, sagt er, und er hat auch nichts gegen Touristen. Doch „wenn das Ganze zur Industrie wird, dann wird der Tourismus zum Problem“, stellt er fest. „Damit wird das Flair kaputt gemacht.“ Zu den Rahmenbedingungen der Kreuzberger Mischung gehörten und gehören für ihn Freiräume wie die Brache an der Cuvrystraße. „Wir brauchen Orte, wo mal gar nichts stattfindet, wo man ohne Kontrolle hin kann und ohne Eintritt zu zahlen“ – „Orte, an denen man sein kann, ohne Kunde zu sein oder eine Gesichtskontrolle passieren zu müssen.“ Damit bringt er auf den Punkt, was das alternative vom hippen, sich selbst feiernden SO 36 unterscheidet: Eingangskontrolle und Eintritt.

Kreuzberger Impressionen:

Auch der Protest gegen das BMW-Guggenheim-Lab gehört in den noch immer vitalen,subkulturellen Teil von Kreuzberg. Die linken Polit-Aktivisten von den Media-Spree-Gegnern über Gentrifizierungs- bis zu den Lab-Gegnern zeigen sich mal hier, mal da bei Veranstaltungen. Wie viele es sind, ob Dutzende, ob Hunderte, ist kaum zu sagen. Ein Kenner der Szene sagt, die Zahl sei „übersichtlich“. Soll heißen: nicht wirklich fähig zu dem, was die Gegner der Aufwertung Kreuzbergs für effektiven Widerstand halten.

Wie die Zukunft von Kreuzberg aussieht

Ur-X-berger. Künstler Hermann Solowe und seine Partnerin Heba Choukri.
Ur-X-berger. Künstler Hermann Solowe und seine Partnerin Heba Choukri.

© Zinken

Wohin die Entwicklung gehen könnte, merkt Pfarrer Stefan Matthias von der evangelischen Taborkirche im Wrangelkiez ausgerechnet an der Kita der Gemeinde. Vor zehn Jahren hätten 40 bis 50 Prozent Kinder nichtdeutscher Herkunft die Kita der Gemeinde besucht, die meisten seien türkische Kinder gewesen. Heute gehören die türkischen Kinder zur Minderheit, die meisten kämen aus dem übrigen europäischen Ausland. Auch die Sozialstruktur habe sich verändert: die Hälfte der knapp 120 Kita-Kinder komme inzwischen aus Akademikerfamilien. Für den Pfarrer ist das einer der vielen Hinweise auf den sozialen Wandel im Kiez. „Bedenklich“ sei die Armut, „sehenden Auges“ werde eine Wohnungspolitik gemacht, die die angestammte Bevölkerung entmische. Pfarrer Matthias, eine Erscheinung wie aus der Bibel, spürt als Seismograf des sozialen Wandels, wie der Wrangelkiez, sein Zuständigkeitsbereich, komplett neu geschichtet wird: unten die Armen, die seit Jahrzehnten dort leben, oben die bürgerlichen Zuwanderer mit Bildung und Kaufkraft.

Bilder aus dem Graefekiez:

Düster klingt, was ausgerechnet die Leute über die Kreuzberger Entwicklung sagen, die SO36 zu dem eigenartigen, alternativen, genossenschaftlich orientierten Stadtteil gemacht haben, der er ist. Hermann Solowe, Künstler mit Atelier in der Falckensteinstraße, lebt seit drei Jahrzehnten im Wrangelkiez. Sein Atelier, das er mit seiner Partnerin Heba Choukri betreibt, ist Kunstraum, Treffpunkt, „Schnittstelle“, wie Heba sagt – Begegnungsraum für Kunstfreunde und die Eltern im Kiez. Auf dem Bürgersteig nebenan sitzt Europas Jugend in der Sonne, zecht Bier und trinkt Kaffee. Hermann macht ziemlich große Figuren aus Papiersträngen, dynamisch, eigenartig – keine Kunst to go. Er stammt, wie Heba, aus Bochum und fasst sich kurz in seiner Antwort auf die Frage, wer Kreuzberg regiere: „Der Markt.“

Das sagen Leute, deren Wohnung in einem selbstverwalteten Haus liegt, deren Selbstverständnis Kreuzberg pur ist – basisdemokratisch, freundlich und offen für jeden, nicht profit-, sondern diskussionsorientiert? Da ist keine Erwartung mehr an die Politik. Hermann Solowe ätzt über Klaus Wowereits Bemerkung, dass steigende Mieten ein Zeichen der wirtschaftlichen Erholung Berlins – und also positiv zu bewerten – seien: „Für wen soll das toll sein, außer für den, dem die Hütte gehört?“ Heba nimmt das, was die beiden als Trend wahrnehmen, der über Leute wie sie hinweggeht, mit einer Mischung aus Humor und Tristesse: „Berlin ist auf der Straße nach Ibiza“, sagt sie. „In zwanzig Jahren sind die alle weg, die ich kenne.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false