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Berlin: Tabakrauch statt Weihrauch

Den zwei herum tollenden Schäferhund-Mischlingen schien die Nässe auf der freien Fläche vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg gestern überhaupt nichts auszumachen. Ein leicht mitgenommen aussehendes Punkermädchen stand vor dem Hauptportal als wenn sie gleich nach einer Mark oder ein wenig Kleingeld fragen wollte.

Den zwei herum tollenden Schäferhund-Mischlingen schien die Nässe auf der freien Fläche vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg gestern überhaupt nichts auszumachen. Ein leicht mitgenommen aussehendes Punkermädchen stand vor dem Hauptportal als wenn sie gleich nach einer Mark oder ein wenig Kleingeld fragen wollte. Sie schaute nur kurz auf, wandte sich dann aber gleich wieder ihren beiden Hunden zu. Geld war hier keines zu holen; die Besucher der Kirche an diesem Tag waren fast ausnahmslos Menschen, die sich zu dem von der AG "Leben mit Obdachlosen" alljährlich veranstalteten Weihnachtsfest in Friedrichshain-Kreuzberg trafen.

In der Vorhalle hatten die Veranstalter eine Hundebar eingerichtet, öffnete man die Glastür, die in die eigentliche Kirche führt, kam einem der schwere Geruch aus billigen Handelsgold-Zigarren und billigem Drehtabak entgegen. Stühle, Tische, Bänke und Aschenbecher standen bereit, Pappteller wurden mit halben Hähnchen und Kartoffelsalat gefüllt. Etwa 600 Obdachlose saßen locker verteilt in kleinen Grüppchen und plaudern wohlgelaunt über Gott und die Welt. Man kennt sich.

Gestern musste niemand frieren; alle hatten genug zu essen. In einer Ecke standen mehrere große Bottiche, aus den heiße Flüssigkeit ausgeschenkt wurde: roter Tee und Kaffee. Viele Wohnungslose hätten vielleicht lieber Glühwein getrunken oder Weinbrand, aber das war streng verboten. Niemand wollte es riskieren, kurz vor der Bescherung hinausgeworfen zu werden. Gegen Ende der Veranstaltung - nachdem getrommelt, gesungen und getanzt wurde, sollten aus einem großen Sack Tabak, warme Socken und Schokolade verteilt werden. Eine große Firma hatte kürzlich eine große Menge Einlegesohlen gespendet, es gäbe wohl in ganz Berlin nun wohl keinen einzigen Obdachlosen ohne Einlegesohlen mehr, scherzte Christiane Pförtner. Sie ist für die Öffentlichkeitsarbeit des Projektes "AG Leben mit Obdachlosen" zuständig. Die Mittel reichten sowieso nicht, klagt sie - und trotzdem würden die Gelder mit schöner Regelmäßigkeit gekürzt: Ein negativer Inflationsausgleich auf Kosten der Ärmsten.

Pförtner verfolgt mit wachsendem Unmut die Bestrebungen des Senates ausgerechnet bei jenen drastisch zu kürzen, die sowieso am wenigsten haben. Wer sich aber durch auswegslose Situationen sofort umwerfen lässt, wäre aber wahrscheinlich für den Job von Christiane Pförtner gar nicht geeignet. "Wir sind auf Spenden und die Wohltätigkeit der Leute angewiesen. Wenn wir nicht hin und wieder etwas geschenkt bekommen würden, könnten wir sofort einpacken." In diesem Jahr hat eine Tabakfirma den in Obdachlosenkreisen gängigen, preiswerten Drehtabak gesponsort. "Wir können den Obdachlosen nicht das Rauchen verbieten und das wollen wir auch gar nicht. Das wäre etwas, was vollkommen an unserer Aufgabe vorbei ginge. Jeden Mittwoch haben wir hier eine Wärmestube eingerichtet, in der es warme Suppe gibt, die sehr gerne genommen wird und wo wir versuchen, ganz langsam Kontakt zu den Menschen aufzunehmen. Unser Hauptanliegen ist nicht, die Leute zu bekehren! Wer auf der Straße leben muss hat es schon schwer genug."

Viele der Menschen, die zu Menschen wie Christiane Pförtner kommen, müssen oft um ihr nacktes Überleben kämpfen. Wenn die Helfer versuchen würden, ihnen irgendwelche gutgemeinten Ratschläge zu geben, würden sie alles, was sie bisher erreichen konnten, schnell wieder verlieren: Die Wohnungslosen würden einfach nicht mehr kommen, sie würden den zahlreichen Initiativen nicht mehr vertrauen. Die Not ist manchmal übermächtig. So gibt es in ganz Berlin keine einzige ganzjährig geöffnete Notübernachtung für Frauen.

Holger-Ronald Kruggel

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