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Berlin: Täter gesucht: Im Dunkeln allein

Es muss ihn etwas getrieben haben. Die Gier nach einer Spritze Heroin oder einer Flasche Schnaps vielleicht.

Es muss ihn etwas getrieben haben. Die Gier nach einer Spritze Heroin oder einer Flasche Schnaps vielleicht. Sie ließ den Mörder das hohe Risiko vergessen, hier im Menschengedränge zwischen den Lichtenberger Plattenbauten, der S-Bahn-Station und Bushaltestelle. In einem unbemerkten Augenblick riss er die Tür des Verkaufwagens auf, stand plötzlich dem Bäckermeister Wolfgang Heinze gegenüber. "Es war dunkel, und du warst allein - das nutzte eine heimtückische und widerwärtige Kreatur, die sich Mensch nennt, aus. Er fiel einem brutalen Raubmord zum Opfer", hieß in der Todesanzeige von Wolfgang Heinze, unterzeichnet hatte sie seine Familie.

Es war der 4. Februar 1997, als der sonst so zuverlässige Bäckermeister nicht pünktlich zum Abendbrot nach Hause kam, und die Frau ihren 34-jährigen Sohn auf die Suche schickte. Der Junior-Chef fand seinen 55-jährigen Vater in der Rudolf-Seiffert-Straße, wo die Familie Tag für Tag mit ihrem Verkaufswagen stand: Wolfgang Heinze lag blutüberströmt mit Stich- und Schnittverletzungen zwischen Brötchen und Kuchen. Für den Konditor kam jede Hilfe zu spät. Der oder die Täter entkamen mit der Kasse und des Bäckers Herrenhandtasche: rund 600 Mark und Heinzes Papiere, eine nicht gerade üppige Beute.

Mit Handzetteln und Plakaten suchte die Kriminalpolizei damals in Lichtenberg nach Zeugen, ein entscheidender Hinweis ging bis heute nicht ein. Sicher, da meldete sich Heinzes vermutlich letzte Kundin, die den Bäcker in seinem Wagen gegen 18.30 Uhr beim Zusammenpacken antraf. "Ansonsten hat sie aber nichts Auffälliges bemerkt", sagt Bernhard Jaß, Chef der achten Mordkommission, in seinem spartanisch eingerichteten Büro: zwei Schreibtische, Computer, Akten, eine Pinnwand.

Dass ein Fall nach vier Jahren noch immer als ungelöst gilt, zählt bei den neun Mordkommissionen in der Schöneberger Keithstraße eher zur Ausnahme: Schätzungsweise 200 Fälle hat beispielsweise "die Achte" seit 1990 bearbeitet, davon blieben 14 bislang ungeklärt. Ein Zeichen der kriminologischen Genialität? Jaß winkt ab. "Das liegt eher am Delikt." Denn wenn ein Mensch getötet werde, finde man den Täter fast immer in der Familie oder Bekanntschaft des Opfers.

Die eifersüchtige Geliebte, der habgierige Neffe, der jähzornige Saufkumpan - ihnen allen kommen Jaß und seine Kollegen leicht auf die Spur, wenn aber wie bei Wolfgang Heinze offenbar ein völlig Fremder zuschlägt, gleicht die Fahndung manchmal der Nadelsuche im Heuhaufen. Jaß glaubt nicht, dass der Angriff auf den Bäckermeister geplant war - jedenfalls nicht als Mord. "Es war vermutlich ein misslungener oder überzogener Raub."

Hier also ist es geschehen: in der Rudolf-Seiffert-Straße zwischen zehnstöckigen Wohnhäusern, Bushaltestelle und Parkplatz. Fast alle haben es auf den Bürgersteigen eilig, nur wenige sind mit leeren Händen unterwegs: Taschen, Tüten, Kinderwagen, Einkaufsroller... Im Februar 1997 war das Einkaufszentrum "Storkower Bogen" noch im Bau, aber auch so bot die belebte Ecke dem 55-jährigen Konditormeister gute Absatzmöglichkeiten für seine Ware. Das Hauptgeschäft hatte die Familie seit 14 Jahren ein paar Ecken weiter in der Pintschstraße. Von Acht-Stunden-Tagen vermochte Unternehmer Heinze, der beim Morgengrauen bereits in seiner Backstube stand, nur zu träumen.

Sein weißer Verkaufswagen ist seit dem Mord nicht mehr an seinen Stammplatz zurückgekehrt, auch die kleine Bäckerei in der Pintschstraße gab die Familie auf. "Die Frau konnte nicht mehr", heißt es im Friseursalon nebenan, "sie war fix und fertig". Das ehemalige Bächereigeschäft steht noch immer leer, die Schriftzug über dem Schaufenster ist längst abmontiert, beigefarbene Jalousien verhindern den Blick ins Ladeninnere.

Noch Wochen nach dem Mord hatten Nachbarn in der Rudolf-Seiffert-Straße Blumen und Kerzen abgelegt, auch ein Bild stand dort: Heinze, ein lächelnder Mann mit dunklem, gescheitelten Haar. In der Nachbarschaft erinnern sich noch viele an den ermordeten Konditormeister. "Eigentlich denke ich fast jeden Tag daran, wenn ich an der Ecke vorbeigehe", sagt eine Frau, während sie ihren Wagen aufschließt. Die einen beschreiben Heinze als manchmal etwas ruppig, andere als freundlich und bescheiden, alle als ausgesprochen fleißig. Obdachlosen soll der 55-Jährige öfter gratis etwas Essbares über den Tresen gereicht haben. "Ein großer Schock für den ganzen Kiez" sei damals der Mord an dem "sehr beliebten Mann" gewesen, sagt eine Nachbarin.

Vielleicht folgte der Täter einem spontanen Einfall. Vielleicht hatte er in der Dunkelheit gewartet, bis der Mann in der fahrbaren Bäckerei den Laden schloss. Jaß und seine Kollegen haben sich das Geschehen vom 4. Februar 1997 oft ausgemalt: ein Mann, nicht jünger als 16, nicht älter als 30. Jemand, der "aus einem Leidensdruck heraus" ein hohes Risiko eingeht. Der in der Nähe des Tatorts lebt oder jemanden hier besucht hat. Einer, der vermutlich nicht zum ersten Mal auf Raubzug oder Diebestour gegangen ist... "Das jedenfalls sehen wir, wenn wir in unsere Glaskugel blicken", sagt Bernhard Jaß lächelnd.

Der Mörder mag sich inzwischen in Gewissheit wiegen. Die Familie die Hoffnung längst aufgegeben haben. Jaß bleibt auch nach vier Jahren "hoffnungsfroh" gestimmt: "Wir haben eine Spur." Der Kommissar sagt, dass der Unbekannte bei seinem Angriff ein "objektives Überprüfungsmerkmal" hinterlassen hat. Und meint damit: Fingerabdrücke, Blutspuren oder Haare. Sollte der Mörder einmal in die Fänge der Polizei geraten, nach einem Raub oder Drogendeal beispielsweise, dürfte es eng für ihn werden. "Dann können wir ihm auch den Mord nachweisen."

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