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Herbst 1989. Hunderttausende DDR-Bürger holten sich in den Tagen nach dem Mauerfall ihr Begrüßungsgeld in Höhe von 100 D-Mark ab.

© privat

Tagesspiegel-Serie "20 Wende-Geschichten": Schlange stehen bis um die Straßenecke

Den Supermarkt, in dem Ayse-Nevin Ascioglu als Verkäuferin die Tage nach dem Mauerfall erlebte, gibt es nicht mehr. Auf Spurensuche in Wedding erzählt sie ihrer Tochter Sema von den turbulenten Tagen.

„Meine Mutter und ihre Kollegen haben länger gearbeitet als sonst, weil viele Leute nach der Maueröffnung vom Osten nach Westen kamen um einzukaufen. Jeder bekam 100 DM Begrüßungsgeld.“ Aus dem Aufsatz von Sema.

Sie kamen von der Bornholmer Brücke und liefen die Osloer Straße entlang. „Das waren richtige Menschenströme“, erinnert sich Ayse-Nevin Ascioglu. 25 Jahre später steht sie mit ihrer elfjährigen Tochter Sema wieder am U-Bahnhof Osloer Straße. Kalter Wind pfeift durch die breiten Weddinger Alleen; Osloer und Residenzstraße treffen hier aufeinander. Sema ist groß für ihr Alter, hat lange braune Haare und trägt eine Brille mit schwarzem Rahmen.

Für ihren Schulaufsatz über den Mauerfall hat sie ihre Mutter interviewt. Nun hört sie gespannt zu, während ihre Mutter ihr den Ort zeigt, wo sie damals die Öffnung der Grenzen miterlebt hat. „Ich habe sofort erkannt, dass es Ostdeutsche waren“, sagt Ascioglu. An der Kleidung, an den Frisuren und daran, wie sie sich umguckten. Neugierig waren sie aufgebrochen, den Westen zu erkunden. Viele Kilometer müssen einige von ihnen an diesen Tagen zu Fuß zurückgelegt haben, meint sie. Alleine, um von der Bornholmer Brücke bis zum U-Bahnhof Osloer Straße zu kommen, sind es rund zwei Kilometer.

Heute sind es genau drei Tramstationen. Die Linie 50 verbindet die Bezirke Wedding und Prenzlauer Berg. „Ich hatte das Gefühl, sie wollten laufen, damit sie die Häuser und alles andere genau betrachten konnten“, sagt Ascioglu. Ständig blieben sie stehen, streckten ihre Köpfe in die unterschiedlichen Richtungen, zu den Häusern, den Balkonen und Autos.

Im Ausnahmezustand. Ayse-Nevin Ascioglu erzählt am U-Bahnhof Osloer Straße ihrer Tochter Sema von den Tausenden von Menschen, die an diesen Tagen über die Bornholmer Straße in den Wedding kamen und bei ihr im Supermarkt einkauften - oder auch nur die Waren bestaunten.
Im Ausnahmezustand. Ayse-Nevin Ascioglu erzählt am U-Bahnhof Osloer Straße ihrer Tochter Sema von den Tausenden von Menschen, die an diesen Tagen über die Bornholmer Straße in den Wedding kamen und bei ihr im Supermarkt einkauften - oder auch nur die Waren bestaunten.

© Doris Spiekermann-Klass

Riesige Menschenschlange vor dem Supermarkt

1989 war Ascioglu, die in Istanbul geboren wurde, 26 Jahre alt. Sie hatte lang gewelltes Haar. Heute ist sie 51. Das Haar ist kürzer und glatter. Damals wie heute arbeitete sie bei der Supermarktkette Kaiser’s; verkaufte Wurst und Käse hinter der Frischetheke. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war sie in einer Filiale in der Weddinger Residenzstraße angestellt. Auf den Spuren der Geschichte wollte sie heute ihrer Tochter Sema diesen Laden zeigen, doch es gibt ihn nicht mehr. „Dort wo jetzt der Parkplatz ist, war früher Kaiser’s“, sagt sie.

Ascioglu hatte einmal als junges Mädchen Ost-Berlin und den Alexanderplatz besucht. Eine persönliche Verbindung zum Osten hatte sie als gebürtige Türkin nicht. Dass die Mauer gefallen sei und die Grenzen offen sind, hatte die West-Berlinerin in der Tagesschau gesehen. „Ich hab’ das nicht ernst genommen“, sagt sie. Keiner der Kollegen habe es geglaubt. Die Skepsis überwog, dass die DDR-Regierung doch wieder das Versprechen für die Reisefreiheit zurückziehen würde.

Sommer 1989. Ayse-Nevin Ascioglu wohnte beim Mauerfall noch in Wedding und arbeitete als Verkäuferin. Der Supermarkt, bei dem sie angestellt war, befand sich in der Residenzstraße in Reinickendorf.
Sommer 1989. Ayse-Nevin Ascioglu wohnte beim Mauerfall noch in Wedding und arbeitete als Verkäuferin. Der Supermarkt, bei dem sie angestellt war, befand sich in der Residenzstraße in Reinickendorf.

© privat

So trat sie früh am Morgen ganz normal ihren Dienst an. Gegen Mittag bildete sich vor dem Supermarkt eine riesige Menschenschlange. Sie kamen von der Bornholmer Brücke. „Das waren alles Ost-Berliner, die bei uns einkaufen wollten“, sagt sie. Die meisten waren sehr sparsam, niemand war dabei, der sein komplettes Begrüßungsgeld auf den Kopf hauen wollte. „Viele waren einfach nur neugierig, wollten gucken, was es im Westen zu kaufen gab und kauften bescheiden kleine Portionen“, erinnert sich Ascioglu.

Die Leute waren sehr geduldig

Der Chef hatte an dem Tag erlaubt, dass die Verkäuferinnen auch Ware verschenken durften. Etwas Wurst hier, etwas Käse da. So bekam jeder, der etwas gekauft hatte, noch eine Kleinigkeit dazu. Die Stimmung war gut. Begeistert liefen die neuen Kunden an den Regalen im Supermarkt entlang, bestaunten das üppige Sortiment. Es habe richtig Spaß gemacht, ihnen dabei zuzusehen, erinnert sie sich. „Gewundert hat mich, dass niemand ohne einen Einkaufswagen in den Laden gehen wollte, selbst die, die gar nichts kaufen wollten“, sagt Ascioglu. Sobald eine Person rauskam, ging die nächste Person rein. Alles lief sehr diszipliniert ab.

Irgendwann kam der Chef und fragte, ob sie länger arbeiten könnten. Ascioglu erinnert an die strikten Öffnungszeiten der 80er Jahre: Der 11. November war ein Samstag und ein normaler Supermarkt war nur bis 14 Uhr geöffnet. Doch an diesem Tag konnten die vielen Ost-Berliner bis in die frühen Abendstunden einkaufen, so groß war der Andrang vor der Tür. Auf dem Heimweg sah Ascioglu die vielen weiteren Menschen, die von der Bornholmer Brücke strömten.

Ihre Tochter Sema faszinieren diese Geschichten. Ohnehin interessiert sie sich für Geschichte. Wer Erich Honecker sei und viele andere Dinge, wisse sie aus dem Schulunterricht. Auch zum Checkpoint Charlie habe die 11-Jährige, die auf die Clemens-Brentano-Grundschule in Lichterfelde geht, mit ihrer Klasse einen Ausflug gemacht. Noch spannender findet sie die Details aus dem Leben von damals, an die sich ihre Mutter so gut erinnert. „Jeder bekam 100 DM Begrüßungsgeld und die Schlange der Bank füllte sich bis über die Straßenseite.“, schreibt Sema in ihrem Aufsatz. Das sei eine Sparkasse in der Müllerstraße gewesen, in Wedding, wo sie und ihre Familie damals wohnten, erzählt ihre Mutter. „Die Schlange ging bis um die Straßenecke, aber die Leute waren so geduldig“, sagt Ascioglu. So etwas habe sie danach nie wiedergesehen.

20 Wende-Geschichten bietet unsere Serie mit Aufsätzen von Berliner Schülerinnen und Schülern. Jeden Tag lassen wir Kinder berichten, was ihre Familien am 9. November 1989 erlebt haben. Die vollständigen Aufsätze finden Sie unter www.tagesspiegel.de/Aufsatz-Wettbewerb.

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