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Die Mauer ist weg. Mia Stobbes Großmutter lief auf der östlichen Seite der Bernauer Straße jeden Tag auf dem Weg zur Schule an der Mauer entlang. an der heutigen Mauer-Gedenkstätte lässt sich Mia von ihrer Mutter und Großmutter aus dieser Zeit erzählen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Tagesspiegel-Serie "20 Wende-Geschichten": Zum Mauerfall in Ost-Berlin gab's Erdbeeren im November

Nach der Freude kam der Frust: Mia Stobbes Großeltern verloren ihre Arbeit und ihre Sicherheit. Für die Grundschülerin Mia ist es schwer zu begreifen, dass sich DDR-Bürger plötzlich ein neues Leben aufbauen mussten.

„Später kommt ein Brief, der uns auffordert, all unsere Sachen zu packen und nach Hause zu gehen.“

Aus dem Aufsatz von Mia Stobbe

Zum Spazieren einladend war das hier damals nicht“, sagt die Großmutter von Mia Stobbe. Mit Enkelin und Schwiegertochter besucht sie den Grenzstreifen an der Bernauer Straße zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. In einem Rollkoffer transportiert die promovierte Mathematikerin, die gerade von der Arbeit kommt, ihren Computer und mehrere Bücher. Es wird langsam dunkel und nur noch wenige Touristen machen ihre Fotos vor dem 1,4 Kilometer langen erhaltenen Mauerstreifen.

Unweit von hier, auf der Ostseite, verbrachte Mias Oma ihre Kindheit. Am Zionskirchplatz wuchs sie auf. Als die Mauer gebaut wurde, war sie sieben Jahre alt. „Auf dem Weg zur Schule musste ich an der Mauer vorbei“, erklärt sie ihrer Enkelin. Ansonsten hätte sie den Grenzstreifen lieber gemieden. Beim Blick Richtung Westen sah sie Plakatwände, auf deren Rückseite standen Sprüche, die nicht „nett gemeint waren“. „Ich weiß nicht mehr den Inhalt, aber ich hatte immer das Gefühl, man wollte uns provozieren“, meint Stobbe. An der Schwedter Straße habe es auf der Westseite ein Podest gegeben, von dem sich zerrissene Familien über die Mauer etwas zuriefen.

Für Enkelin Mia sind das Geschichten aus ferner Zeit, sie kann sich nur schwer vorstellen, dass sich das Leben plötzlich komplett ändert. Anfangs hatte sie keine große Lust, einen Aufsatz über die Mauer zu schreiben, sagt die Zwölfjährige, die die Pettenkofer Grundschule in Friedrichshain besucht. Doch eines Abends saß sie mit ihrer Familie zusammen und sie begann Oma und Eltern über den Mauerfall auszufragen. Als sie dann wenig später ihren Aufsatz aus den Erinnerungen aufschrieb, vermischte sie ein wenig die unterschiedlichen Geschichten. In den ersten zwei Absätzen erzählt sie von ihrer Oma und am Ende bezieht sie sich auf die Erfahrungen ihrer Mutter.

„Der Chef ist drüben im Westen“

Oma Stobbe erfuhr von der Öffnung der Grenzen über die Nachrichten. Ob sie und ihr Mann West- oder Ostfernsehen guckten, weiß sie nicht mehr. „Wir guckten immer beides. Es war eine aufregende Zeit. Ständig gab es Demonstrationen, Politbürositzungen oder Ähnliches“, sagt sie. Den Nebensatz von Günter Schabowski nahmen sie beide nicht richtig ernst. „Ich hätte gedacht, dass so ein Ereignis etwas großspuriger angekündigt werden müsste.“ Ein wenig mehr Inszenierung, ähnlich wie bei Genscher in Prag auf dem Botschafts-Balkon.

Der nächste Tag begann wie jeder andere. Die Kinder mussten in die Schule. Mias Oma ging pflichtbewusst zur Arbeit. Sie arbeitete damals in einem wissenschaftlichen Institut in Ost-Berlin. Doch nicht alle Mitarbeiter erschienen an diesem Tag pünktlich zum Dienst. „Der Chef ist drüben im Westen“, sagten ihre Kollegen, als Stobbe ins Büro kam. „Eine Stunde später war er wieder da und hatte Erdbeertorte mitgebracht“, erinnert sie sich. Damit wollte er die Freude über seinen kurzen Ausflug mit den anderen teilen. Erdbeeren im November, das sei typisch für den Westen, hätte sie gedacht. Und ist eine der Sachen, die sie bis heute nicht verstehen will. Sie hatte kein Fernweh und kein Verlangen in den Westen zu ziehen. Die BRD kannte sie, denn als Wissenschaftlerin konnte sie internationale Konferenzen besuchen. Erst wenige Monate vor dem Mauerfall war sie für ihr Institut zur Messe nach Hannover gereist. So nahm sie die Wende sehr gelassen hin.

Auch Mias Mutter Anne Stobbe, die in der DDR geboren wurde, hat der Mauerfall weniger emotional aufgewühlt als die meisten anderen Menschen in Ost- und West-Berlin. 1989 war sie zehn Jahre alt und lebte mit ihren Eltern in Ägypten. Ihr Vater arbeitete als Übersetzer für die DDR-Botschaft. Ihre Mutter war Lehrerin. Die Ereignisse in Berlin bekam sie nur aus der Ferne mit. „Ich war zu jung, um wirklich zu begreifen, was passiert war“, sagt sie rückblickend. Woran sich die 35-Jährige gut erinnert, ist, dass zur Wiedervereinigung die Botschaft geschlossen und geräumt wurde.

Bürgerin in einem anderen Staat

Die Familie blieb noch in Ägypten, bis zu dem Tag, an dem das Messingschild am Eingang der Botschaft abgeschraubt wurde. Ihre Eltern waren somit arbeitslos. Zurück in Berlin mussten sie sich mit Mitte 30 ein neues Leben aufbauen. Anne Stobbe ging auf eine neue Schule. „Ich fühlte mich nicht anders und war plötzlich Bürgerin in einem anderen Staat“, sagt sie.

Nach dem Mauerfall gab es für alle mehr Freiheiten. Für viele Ost-Berliner bedeutete das aber auch gleichzeitig mehr Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Das Institut, bei dem Mias Oma als Wissenschaftlerin angestellt war, wurde kurze Zeit später geschlossen. „Von da an habe ich nur noch Zeitverträge bekommen“, sagt sie. In der freien Wirtschaft war es für sie als Frau aus dem Osten und als Mutter schwieriger, eine Stelle zu finden. Sie hat dennoch ihren Weg gemacht.

Heute ist sie selbstständig in der Informatik-Branche. Ohne Mauerfall hätte sie vermutlich noch immer beim gleichen Institut gearbeitet und wäre irgendwann Abteilungsleiterin oder Arbeitsgruppenleiterin geworden. Beide Frauen hätten es aber gut gefunden, „wenn es eine Brücke gegeben hätte“, um den Übergang in das gemeinsame Land für alle zu erleichtern.

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