Berlin: Tagesspiegel-Wettbewerb: Zarte Nacken über ledrigen Schwarten
Kleiner KassiberWunderbarer barer Nackenin der Bibliothek.Sieh, wie er sich senktsieh, wie er sich dreht, beim Lesen!
Kleiner Kassiber
Wunderbarer barer Nacken
in der Bibliothek.
Sieh, wie er sich senkt
sieh, wie er sich dreht, beim Lesen! Ich
kann nicht lesen
kann nicht denken
kann nur meine Blicke lenken
auf den pfeilgeraden Weg
hin zum schmalen weißen Nacken
in der Bibliothek.
Hinweg, ihr hartnäckigen Bücher!
Zur Seite, ledrige Schwarten
Was zählt, sind die flaumbehaarten
zarten Nacken (ohne Tücher), ihre kaum sichtbaren Male
nicht des Geistes zähe Oberschale! (...)
Da ist Blut und da ist Leben
das ist unaussprechlich weise
und der Weisheit schlichte Weise
könnt ihr Brüder schlicht nicht geben.
Da ist Leben, da ist Glut
das tut unaussprechlich gut
und dies Guttun, gebt es zu
schreckt selbst euch aus eurer Ruh.
Das zu küssen, das zu kosen
mit der Zunge und mit losen
Sprüchen zu umspielen, wäre reines Glück.
Doch zu schielen und zu schauen
Träume darauf aufzubauen
ist vom Glück bereits ein Stück.
Ein schönes Stück, wie ich betonen möchte.
(Steffen Jacobs)
Mein Stück "Kleiner Kassiber" ist ein Gelegenheitsgedicht. Ich skizzierte seinen Verlauf im Frühherbst 1995, als ich mich ziemlich genau dort befand, wo das Gedicht seinen Anfang nimmt: an einem Schreibtisch in der Amerikanistik-Bibliothek der FU. Ich las gerade in frühen Gedichten John Ashberys, als mein Blick abschweifte und auf den ungleich faszinierenderen Nacken einer Studentin fiel. Hie das Buch, da die Frau; hie die Kunst, da das Leben - was macht der Dichter in einer solchen Situation?
Ich schrieb. Besser gesagt: Ich verließ das John-F.-Kennedy-Institut und strebte beflügelt dem U-Bahnhof Dahlem Dorf zu. Während der nächsten zwei Tage arbeitete ich die lyrische Skizze am heimischen Schreibtisch zum vollgültigen Artefakt aus. Ein seltsamer Gegensatz: Während der Held des Gedichtes sich von der Kunst ab- und dem Leben zuwendet, schlug dessen Autor die umgekehrte Richtung ein. Immerhin: die Erfüllung des Begehrens bleibt in beiden Fällen hypothetisch.
Nicht, dass Kunst und Leben einander zwangsläufig im Weg stehen. Von dieser schicken These halte ich nicht viel. Im Gegenteil: Ich finde, das Dichten ist ebenso sehr eine Kunst des Lebens wie eine Sprachkunst. Als Lyriker tut man gut daran, aus beiden Quellen zu schöpfen. Man muss ja nicht immer zugunsten des Gedichtes verzichten. Man kann ja, mit Oscar Wilde, auch mal das Leben als Kunstwerk gestalten. Zumindest als Gelegenheitsgedicht. Steffen Jacobs
Steffen Jacobs, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt in Berlin. Er veröffentlichte die Gedichtbände "Der Alltag des Abenteurers" (S. Fischer, 1996) und "Geschulte Monade" (S. Fischer, 1997; aus diesem Band stammt der Auszug aus obigem Gedicht). 1996-2000 betreute er die kritische Kolumne des Lyrikdoktors Jakob Stephan in der Zeitschrift "Neue Rundschau". Jakob Stephans gesammelte Kolumnen sind in diesem Jahr unter dem Titel "Lyrische Visite oder Das nächste Gedicht, bitte" im Haffmans Verlag erschienen.
Mitmachen beim Tagesspiegel-Wettbewerb kann jede/r, aber Thema muss das Leben an der Hochschule sein. Alle Dichter werden im Herbst zu einem Besuch in den Tagesspiegel eingeladen. Die besten drei Gedichte werden mit 500, 300 und 200 Mark prämiert, zehn weitere mit Buchpreisen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Einsendeschluss ist der zehnte Oktober. In den nächsten Tagen werden wir zur weiteren Anregung auch Einsendungen von Lesern veröffentlichen. Gute Chancen, gedruckt zu werden, haben besonders Gedichte in maßvoller Länge. Eine Entscheidung über die Gewinner des Wettbewerbs ist damit aber noch nicht getroffen (Einsendungen an die Redaktion des Tagesspiegel, Stichwort "Campus-Gedicht", 10876 Berlin. E-mails bitte an infotsp@tagesspiegel.de , Stichwort "Campus-Gedicht". Fax: 26009-448).
akü
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