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Berlin: Tausende Jugendliche finden jahrelang keine Lehrstelle Sechzig Prozent der erfolglosen Bewerber sind so genannte Altbewerber

Viele Betriebe können neue Auflagen nicht erfüllen – und bilden nicht mehr aus

Für Tausende Berliner Jugendliche wird der Einstieg in den Beruf immer schwieriger: Viele bewerben sich seit Jahren vergeblich um eine Lehrstelle. Nach aktuellen Erhebungen der Handwerkskammer sowie der Industrie- und Handelskammer (IHK) sind mehr als 60 Prozent der Jugendlichen, die immer noch einen Ausbildungsplatz suchen, so genannte Altbewerber. Die Quote stieg von Jahr zu Jahr und liegt höher als in anderen Bundesländern, sagt Ulrich Wiegand, Geschäftsführer der Handwerkskammer Berlin.

Dabei wollen viele Firmen ausbilden – und können es doch nicht, weil sie die neuen Anforderungen nicht mehr erfüllen. Neuerdings sollen beispielsweise Handwerksmeister angehenden Elektroinstallateuren Englisch beibringen und ihnen Computerarbeitsplätze bieten, über die nicht einmal sie selbst verfügen.

An Berlins Berufsschulen drehen derzeit 13000 Jugendliche oft über Jahre Warteschleifen in berufsvorbereitenden Lehrgängen, weil sie keinen Ausbildungplatz haben, wissen die Statistiker der Senatsbildungsverwaltung. Seit dem Schuljahr 2001/2002 mussten solche Plätze jedes Jahr um rund 2000 aufgestockt werden. „Der Jugendliche wird aber für den Arbeitsmarkt nicht geeigneter, wenn er eine Warteschleife nach der anderen dreht“, sagt Handwerkskammer-Chef Wiegand. Vielmehr sinkt ihr Selbstvertrauen. Viele Arbeitgeber bevorzugen Bewerber, die gerade von der Schule kommen.

Ein Grund für die angespannte Lage ist den Kammern zufolge die wirtschaftliche Situation der Region. Zum anderen bremsen jetzt aber Innovationen, die dem Lehrstellenmarkt eigentlich zu neuem Schwung verhelfen sollten: die im Auftrag der Bundesregierung neu definierten Ausbildungsberufe. „Dieses Jahr sind in Berlin allein im Handwerk bis zu 70 Ausbildungsverträge weggebrochen, weil die Betriebe überfordert sind“, sagt der Handwerkskammer-Geschäftsführer. In den Branchen Sanitär/Heizung/Klima bilden weniger Unternehmen aus, zudem trifft es die IT-Branche. Das Beispiel der Firma Gerhard Albrecht GmbH – ein alt eingesessener Elektroinstallationsbetrieb in Tempelhof – macht das deutlich. „Mit den neuen Ausbildungsordnungen wird an der Realität vorbeigeplant“, sagt Prokurist Gerd Borck. Er kennt die Branche seit Jahrzehnten, hat 1966 bei der Firma Albrecht als Lehrling angefangen. Jahrzehntelang hatte der Betrieb bis zu vier Elektroinstallateur-Lehrlinge, die meisten wurden übernommen. Jetzt lernt bei Albrecht niemand mehr. „Die neue Ordnung sieht vor, dass ich einem Elektroniker-Lehrling einen PC-Arbeitsplatz bieten muss. Das ist aber bei uns nicht möglich“, sagt Borck. Zudem müsse er Berufseinsteigern neuerdings Einblicke in die Kalkulation gewähren und sie an wichtigen Kundengesprächen teilhaben lassen. Borck: „Das ermögliche ich sonst erfahrenen Mitarbeitern, von denen ich weiß, dass sie loyal sind.“

Jung-Elektronikern muss jetzt auch Englisch in Wort und Schrift beigebracht werden. „Nun kommt das Grundwissen bei der Ausbildung viel zu kurz, in der Praxis müssen die Leute doch Leitungen verlegen und Löcher bohren können“, sagt Borck. Bislang habe er gern gute Realschüler eingestellt, jetzt könnten nur noch Abiturienten die Anforderungen erfüllen. „Doch die gehen einem nach der Lehre meist wieder verloren.“ Beim Zentralverband des Elektrohandwerks war am Wochenende niemand für eine Stellungnahme zu den neuen Vorschriften zu erreichen.

In Berlin lassen inzwischen viele Handwerksbetriebe Jugendliche mit Hochschulreife Steckdosen verlegen und Wände aufstemmen, während nach den Worten von Gerd Borck „teils begabtere Realschüler“ leer ausgehen. Handwerkskammer-Chef Ulrich Wiegand: „In zwei Jahren ist jeder zehnte Auszubildende im Berliner Handwerk Abiturient.“

Annette Kögel

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