zum Hauptinhalt
Tempo 30 gilt auf den Nebenstraßen Berlins bereits als Regel. Das ist den Verkehrsplanern an manchen Stellen aber noch viel zu schnell.

© dpa

Tempolimit: Berlin tritt auf die Bremse

Tempo 10 im Wohngebiet ist bisher die Ausnahme - und soll es auch bleiben. Die Senatsverwaltung will stattdessen Tempo 20 ausprobieren - zunächst in drei sogenannten Begegnungszonen. Ein Pro und Contra.

Berlin entdeckt die Langsamkeit – für Autofahrer. Fast flächendeckend darf bereits auf Straßen in Wohngebieten nur mit 30 Stundenkilometern gefahren werden. Jetzt sollen auch Tempo-20-Bereiche hinzukommen. Und im sogenannten Fliegerviertel in Tempelhof sind seit kurzem sogar nur noch maximal 10 km/h erlaubt. Damit habe der Bezirk auf den Wunsch mehrerer Anwohner reagiert, sagte Baustadtrat Oliver Schworck (SPD). Andere Nachbarn wurden von den neuen Schildern völlig überrascht.

Mit der Begrenzung auf 10 km/h wolle man verhindern, dass Autofahrer beim fast täglichen Stau auf dem Tempelhofer Damm auf die Nebenstraßen im Wohngebiet ausweichen, begründete Schworck diesen Schritt, der mit Polizei und Verkehrsverwaltung abgesprochen sei. Der Ausweichverkehr habe zuvor extrem zugenommen. Die Straßen im Fliegerviertel seien aber sehr schmal und die Bordsteine so flach, dass Autofahrer auch locker mit zwei Rädern auf den Gehwegen gefahren seien. Dies habe Fußgänger, vor allem Kinder, stark gefährdet. Ein Durchfahrverbot sei nicht beachtet worden.

Nach dem Ende der Sommerferien soll das Tempolimit auch streng kontrolliert werden, kündigte Schworck an. Er ist überzeugt, dass Autofahrer, die weiter den Stau auf dem Tempelhofer Damm umfahren wollen, sich ans neue Limit halten werden. Fahren sie etwa statt Tempo 10 mit 40 km/h, wird dies erheblich teurer als bei Fahrern, die in einer Tempo-30-Zone mit 50 erwischt werden: Wer 16 bis 20 km/h zu schnell fährt, muss 35 Euro zahlen. Bei 26 bis 30 km/h sind 100 Euro fällig und es gibt drei Punkte in der Sünderkartei. Liegt das Tempo zwischen 31 und 40 km/h über dem Limit, steigt das Bußgeld auf 160 Euro. Und zu den drei Punkten kommt ein einmonatiges Fahrverbot. Nicht alle Anwohner stehen aber hinter der Geschwindigkeitsbegrenzung in der Tempelhofer Siedlung. Sie beklagen sich, dass auch sie jetzt zum Schleichen durch die Wohnstraßen verdonnert seien.

Auf den ebenfalls schmalen Straßen der Spandauer Vorstadt in Mitte gilt schon seit Jahren Tempo 10. Und der Kiez am Klausenerplatz in Charlottenburg ist seit langem verkehrsberuhigt – mit Tempo 7. Während Tempo 10 in Berlin die Ausnahme bleiben soll, will die Stadtentwicklungsverwaltung großflächiger Tempo 20 ausprobieren – in zunächst zwei oder drei „Begegnungszonen“. In denen haben Fußgänger gegenüber dem Fahrzeugverkehr Vortritt. Sie können jederzeit und überall die Fahrbahn überqueren, dürfen dabei jedoch die Fahrzeuge nicht unnötig behindern, deren Höchsttempo mit 20 km/h vorgegeben wird, damit sie rechtzeitig bremsen können. Solche „Begegnungszonen“ sind seit 2002 in der Schweiz zugelassen. In Berlin sollen sie zunächst am Checkpoint Charlie, wo besonders viele Touristen unterwegs sind, sowie auf der Bergmannstraße in Kreuzberg erprobt werden.

Langsamkeit ist auch auf Hauptstraßen üblich geworden – vor allem vor Schulen und Kitas, wo Tempo 30 auch in den Ferien gilt. Hinzu kommen Abschnitte auf Hauptstraßen, auf denen nachts nur mit 30 km/h gefahren werden darf, um den Lärm zu reduzieren. Die Anordnung muss jedes Mal gut begründet sein. Für Hauptstraßen ist dafür die Stadtentwicklungsverwaltung zuständig, in Nebenstraßen können die Bezirke die Verordnungen erlassen. 2002 kippte das Verwaltungsgericht Tempo 60 auf der Avus in Nikolassee, unter anderem, weil es vor der Anordnung keine Lärmmessungen gegeben hatte.

Pro: Was spricht für Tempo 20? Lesen Sie weiter auf Seite 2.

Fragen wir zuerst den Kopf, was für langsames Fahren spricht. Also: Die teuflische Physik lässt den Bremsweg im Quadrat zum gefahrenen Tempo steigen. Wer statt Tempo 30 nur 20 fährt, steht folglich schon nach knapp der Hälfte der Strecke. Da jede Notbremsung mit einer Schrecksekunde beginnt, ergibt sich: Wo der Fahrer bei Tempo 20 schon steht, hat er bei 30 noch nicht mal angefangen zu bremsen. Das macht für das Kind vor der Motorhaube einen Riesenunterschied. Zumal selbst die verbleibenden sieben Meter von 20 km/h auf null in einer Wohnstraße schon arg lang sein können. Das Bezirksamt Mitte hat das schon vor Jahren erkannt und in der Spandauer Vorstadt Tempo 10 eingeführt. Das bewährt sich ebenso wie die Spielstraßen (Tempo 7) in Charlottenburg. Wer mit dem Zeitverlust argumentieren will: Auf einer 200 Meter langen Strecke büßt man mit Tempo 20 statt 30 genau zwölf Sekunden ein. Und rettet dafür vielleicht einen Menschen. Denn die geplante Entschleunigung betrifft nur Wohn- und Nebenstraßen.  Womit wir beim Bauchgefühl wären: Kein vernünftiger Mensch brettert schneller als 30 km/h durch Menschenmengen wie die am Checkpoint Charlie. Orte wie diese eignen sich selbst ohne Tempolimit nicht für die Freude am Fahren. Aber sie sind gefährlich und können sicherer werden. Dass Straßenverkehr gefährlich ist, ist kein Naturgesetz, sondern Folge des Status Quo. Stefan Jacobs

Contra: Einige Argumente gegen das neue Tempolimit finden Sie auf Seite 3.

Du lieber Gott, jetzt also auch noch Tempo 20. In sogenannten Begegnungszonen, das klingt ja erst mal gut, birgt jedoch auch große Risiken. Aber blicken wir mit aller Ruhe im Neutralgang auf den Berliner Straßenverkehr. Autos machen in dieser Stadt nur knapp ein Drittel des gesamten Verkehrsaufkommens aus, und rund um die Uhr zugestaute enge Straßen wie in anderen europäischen Metropolen gibt es hier nicht. Vielerorts, wo Menschen wohnen und nachts ihre Ruhe haben wollen, gilt jetzt schon Tempo 30. Hinzu kommen Schrittgeschwindigkeit wie etwa am Landwehrkanal zwischen Kottbusser Damm und Admiralbrücke, da kann man beim gemütlichen Durchrollen gleich noch Sightseeingtouren machen, völlig okay. Tempo 10 im Tempelhofer Fliegerviertel ist trickreich, das hat Charme, damit die Berufsverkehrsgenervten nicht rasante Abkürzungen durchs Wohngebiet nehmen. Gut. Aber nun noch Tempo-20-Zonen? Muss man künftig einen Minicomputer mit ans Steuer nehmen, um sich all diese Limits merken zu können? Ganz ehrlich: Wenn auf der Bergmannstraße in Kreuzberg Tempo 20 gelten würde, würden die meisten 30 fahren, zehn Stundenkilometer mehr, da wird man noch nicht belangt. Die Fußgänger wägten sich in trügerischer Sicherheit, müssten aber doch mit Bleifüßen rechnen. Das kann gefährlich werden. Lassen wir die Tachonadel lieber dort, wo sie ist. Annette Kögel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false