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an mehreren Stellen nahe der Gedächtniskirche sind Kerzeninseln zum Gedenken an die Opfer des Anschlags entstanden

© Britta Pedersen/dpa

Terror in Berlin: Die standhafte Gemeinde der Gedächtniskirche

Keine Gemeinde war dem Leid so nah wie die, der Gedächtniskirche. In unmittelbarer Nähe ist am Montag ein LKW in einen Weihnachtsmarkt gefahren. Ein Besuch bei Pfarrer Martin Germer.

Wer an diesem Vormittag, wenige Stunden bevor Heiligabend gefeiert wird, die Gedächtniskirche besuchen, vielleicht etwas Trost oder auch nur Ruhe finden will nach dieser fürchterlichen Woche, wird vor verschlossenen Türen stehen. Sonst steht die Kirche tagsüber jedem offen, aber am 24. Dezember geht es nicht anders. Die Kirche muss vorbereitet werden für die Gottesdienste, die schon am frühen Nachmittag beginnen. Sechs werden es sein, als Christvesper mit Krippenspiel oder Chormusik, als Orgelkonzert oder als Christmette mit Abendmahl.

Gewöhnlich ist die Andachtshalle in der Ruine der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Heiligabend ebenfalls geschlossen. An diesem besonderen Sonnabend aber, an dem manch einer, der letzte Geschenke gekauft oder sich auf dem Weihnachtsmarkt so gut wie derzeit eben möglich vergnügt hat, etwas innere Einkehr sucht oder an einem würdigen Ort der Toten gedenken möchte – an diesem Vormittag also wird die Gedenkhalle Besuchern offen stehen. Gemeindemitglieder werden sie am Eingang begrüßen, Ehrenamtliche auch sie wie jene, die in den vergangenen Tagen am Eingang der „neuen“, nun auch schon 55 Jahre alten Kirche ausharrten und den Strom der Besucher zu kanalisieren suchten, die an diesem Ort ihre Anteilnahme, ihre Trauer um die Opfer und deren Angehörigen und Freunde ausdrücken wollten.

Eine ungelöste Frage: Wohin mit der Kerzeninsel?

Ein Problem muss aber bis zum ersten Gottesdienst gelöst werden, eines, an das all die Menschen, die im Eingangsbereich der Kirche Kerzen aufstellten, noch nicht denken mussten, das sich aber an einem Tag wie diesem, wenn sich genau dort lange Schlangen bilden, stellt. Eines, das später auch an den beiden anderen, dem Tatort näheren Kerzeninseln auftauchen wird, wie bereits an früheren Orten des Gedenkens wie der französischen Botschaft auf dem Pariser Platz: Wie entfernt man in würdiger Weise diese Blumen, Kerzen und Bilder? „Ein noch immer ungelöstes Problem“, sagte Pfarrer Martin Germer noch am Tag der Wiedereröffnung des Weihnachtsmarktes, war sich aber sicher, dass man im Gemeindekirchenrat dazu eine gute Lösung finden werde. Die Kerzen umstellen, vielleicht an die beiden anderen Stellen, wo niemand Gefahr läuft, daraufzutreten? Wäre denkbar.

Ein praktisches Problem, gewiss, aber eines, das tiefer geht, eine grundsätzliche Frage betrifft: Wie findet man nach solch einem Anschlag wieder in den Alltag? Die Wiedereröffnung des Marktes, noch dazu mit einer Andacht in der Kirche, das war für Pfarrer Germer ein richtiger, von ihm unbedingt unterstützter Schritt: ein Stück wiedergewonnene Normalität, aber immer in dem Bewusstsein des Geschehenen. Und selbstverständlich werde dieses in allen Gottesdiensten am Heiligabend angesprochen, die Weihnachtsbotschaft darauf bezogen werden, unter besonderen Vorzeichen bei dem vierten, von Polizeipfarrerin Marianne Ludwig gehaltenen Gottesdienst, zu dem, so erwartet Martin Germer, sicher viele der Beamten und Helfer kommen werden, die nach dem Anschlag eingesetzt waren.

Martin Germer ist Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.
Martin Germer ist Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.

© Tobias Schwarz/AFP

Aber es bleibt doch eine Spannung zwischen dem Drinnen und dem Draußen, zwischen der Ruhe des Gotteshauses und dem trubeligen, unruhig pulsierenden und nun sogar gewalttätigen Leben drumherum. Eine Spannung, die am Montag einen Ausnahmezustand, ein Extrem erreichte, die aber in moderater Form auch im Alltag besteht und für Pfarrer Germer gerade das Besondere seiner Gemeinde ausmacht. „Mittendrin – das ist eines meiner Lieblingswörter“, sagt er. Man könne in der Kirche die vertraute Gemeinschaft suchen und auch finden, aber man müsse damit leben, auch auf zahllose andere, nicht vertraute Menschen zu treffen. Allein schon was die Gemeinde der Gedächtniskirche betreffe: Genau genommen gebe es mehrere. Da ist zunächst die eigentliche Gemeinde, etwa 3000 Mitglieder stark, von denen zehn Prozent nicht im Einzugsgebiet der Gedächtniskirche wohnen, was Martin Germer völlig in Ordnung findet, man solle eben in die Kirche gehen, in der man sich zu Hause fühle. Dann sei seine Kirche aber auch die der Schausteller, von denen er etliche bei der Andacht am Donnerstag getroffen habe. Schließlich gebe es die Gemeinde der Musikfreunde, die regelmäßig zu den 14-tägigen Kantatengottesdiensten des der Gemeinde verbundenen Bach-Chores oder den vielen anderen Konzerten kommen. Rund 100 sind es pro Jahr und meist gratis. Und immer wieder ist die Gedächtniskirche auch der Ort für Gottesdienste, bei denen es etwas zu repräsentieren gibt, sei es, dass am Vormittag vor einem DFB-Pokalfinale oder zur Grünen Woche zum Gottesdienst gebeten wird, an dem die jeweiligen Amtsträger teilnehmen. Selbst bei normalen Gottesdiensten kommen drei Viertel der Besucher nicht aus der Ortsgemeinde.

Rund 1,3 Millionen Besucher kommen pro Jahr

Und schließlich sind da natürlich die Scharen der Berlin-Besucher, für die die Gedächtniskirche traditionell ein Muss ist. Rund 1,3 Millionen kommen pro Jahr, davon die Hälfte aus dem Ausland. Architektur- wie auch Geschichtsbegeisterte sind darunter, Gläubige, gewiss, aber auch viele, die nur mal so aus Neugier die wilhelminischen Mosaike der Ruine oder den Eiermann-Bau mit seinem blau leuchtenden Innenleben besichtigen wollen und dann vielleicht in einer der drei Andachten, die an den Wochentagen von Martin Germer und seinen beiden Kolleginnen gehalten werden, hängen bleiben. Eine Kirche der Menschen wolle man sein, stets sei daher „alles sehr auf Öffentlichkeit ausgerichtet“, sagt Germer, allein schon durch die täglich vier bis sechs Führungen, die man mit Hilfe des Freundeskreises der Kirche anbiete.

Mit einer Andacht in der Gedächtniskirche wurde am 22. Dezember der Weihnachtsmarkt wiedereröffnet.
Mit einer Andacht in der Gedächtniskirche wurde am 22. Dezember der Weihnachtsmarkt wiedereröffnet.

© Rainer Jensen/dpa

Und das Angebot wird genutzt, schließlich ist es nicht irgendein Gotteshaus in Berlin, sondern die Gedächtniskirche, die schon immer, vor allem aber in der Nachkriegszeit, eine herausragende Rolle spielte, erst in West-, dann in ganz Berlin. Die nach dem Krieg auf der Abrissliste stand, dann zum Mahnmal wurde, zu einem Ort der Versöhnung auch, dessen wichtigstes Symbol das Nagelkreuz von Coventry in der 1987 eingerichteten Gedenkhalle ist. Die 1961, kurz nach dem Mauerbau, den genialen Neubaukomplex von Egon Eiermann erhielt, samt der Ruine ein Ensemble, mit dem die Berliner, selbst die der Kirche eher fernstehenden, sich identifizieren, wohl stärker, als dies der in seiner wilhelminischen Pracht prunkende Berliner Dom je vermag.

Das machte die Gedächtniskirche zugleich aber zu einem Ort, auf den man gern zurückgriff, um eigenen politischen Forderungen zu mehr Nachdruck zu verleihen. Die studentische APO etwa, die am Heiligabend 1968 ein Go-in veranstaltete, Atomkraftgegner, die 1979 in den Hungerstreik traten, oder Flüchtlinge, die 2014 an der Kirche eine Mahnwache inszenierten. Auch verlockten die Türme immer mal wieder zu Aufstiegsversuchen, sogar ein Schweizer Bergführer erklomm 1988 den Eiermann-Turm und wunderte sich nach dem Abstieg, dass er mächtig Ärger bekam. Doch so bedenklich, ja unzulässig diese Wahl einer freilich kaum alpinen Steilwand auch war: Selbst all diese geltungssüchtigen, vielleicht auch nur alkoholisierten Klettermaxen haben mit ihrer Extratour doch gezeigt, dass es eine ganz besondere Kirche ist – ein Symbol für so vieles, und eben mittendrin.

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