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Macht und Kultur. Am 27. Februar 1938 besuchte Joseph Goebbels die Ausstellung „Entartete Kunst“ im Haus der Kunst am Königsplatz (heute: Platz der Republik).

© akg-images

Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“: Als aus Bürgern Volksgenossen wurden

Zum 80. Jahrestag der Machtübergabe an die Nationalsozialisten zeigt das Programm „Zerstörte Vielfalt“, wie die deutsche Gesellschaft durch Staatsterror und Personalaustausch „gleichgeschaltet“ wurde.

Das Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ gibt den Leitfaden für eine historische Orientierung in 2013 vor. Mehr als 120 Projektpartner, angeregt durch die Senatskulturverwaltung, finanziell angeschoben durch öffentliche Mittel und koordiniert durch die Organisation Kulturprojekte, haben sich zusammengefunden, um ein politisch-kulturelles Veranstaltungsprogramm zu realisieren. Eingeladen wird zu einer Zeitreise, deren Ecktermine der 80. Jahrestag der Machtübergabe an Hitler (30. Januar 1933) und der 75. Jahrestag der Reichspogromnacht (9. November 1938) sind.

Kulturstaatssekretär André Schmitz, dem Berlins Erinnerungskultur ein Anliegen ist („Ich bin ein leidenschaftlicher Anbringer von Gedenktafeln“), hat mit seinem Referenten Rainer Klemke vor drei Jahren die Vorbereitung in Gang gebracht. Renommierte Institute wie die Topographie des Terrors und das Deutsche Historische Museum, wo die Titelausstellung „Zerstörte Vielfalt“ und eine Portal-Präsentation der Kooperationsprojekte stattfindet, sind mit von der Partie.

Das Besondere zeigt sich allerdings im Zusammenspiel der zahlreichen Off-Partner: kleine Museen, Vereine, Verbände, Kulturämter, Galerien, Stiftungen, Bühnen, Gemeinden, Gedenkstätten, Privatinitiativen machen die Recherche und ihre Darstellung zum dezentralen Prozess, der viele Quartiere und auch Nicht-Museumsgänger erreicht. Als vor 30 Jahren an den 50. Jahrestag des 30. Januar 1933 erinnert werden sollte, war das in Berlin noch ein wenig anders: Der Senat wollte nichts organisieren, und so blieb es 40 Basisinitiativen überlassen, Angebote zur Forschung und Erinnerung zu entwickeln. Das aus der damaligen Bürgerinitiative erwachsene Aktive Museum Faschismus und Widerstand ist nun mit seiner Koordinierungsstelle Stolpersteine und Ausstellungen über Kunsthandel im „Dritten Reich“ und Mexiko als Emigrantenzuflucht beteiligt.

Entdeckung im Bombenschutt. Im Oktober 2010 wurden bei archäologischen Grabungen nahe des Roten Rathauses Reste der Ausstellung „Entartete Kunst“ entdeckt, die dort in einem später kriegszerstörten Haus gelagert worden waren.
Entdeckung im Bombenschutt. Im Oktober 2010 wurden bei archäologischen Grabungen nahe des Roten Rathauses Reste der Ausstellung „Entartete Kunst“ entdeckt, die dort in einem später kriegszerstörten Haus gelagert worden waren.

© dapd

Seit 1983 ist das NS-Thema zunehmend ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Kritiker unken mittlerweile, die Zahl der Mahnprojekte befördere bisweilen Genervtheit und Abstumpfung gegen die Themen Nazi-Untaten und Judenschicksale. Tatsächlich muss „Zerstörte Vielfalt“ solche Vorbehalte überwinden. Doch die Epoche ist mit Recht didaktisches Pflichtpensum, der Stoff speist regelmäßig TV-Dokus und Fiction-Filme. Trotzdem haben Schüler zeitgeschichtlichen Nachholbedarf, und Touristen suchen vor Ort gern – Hitler thrills! – die Erregungen der belasteten Topographie. Aber: Ist nicht eigentlich das Wichtigste längst wohlbekannt?

Vom 30. Januar 1933 lässt sich so etwas vermutlich nicht sagen, von der Pogromnacht 1938, dem anderen Rahmendatum, aufgrund häufiger darauf bezogener Gedenkakte um so mehr. Kann 2013 also wirklich etwas Neues, Überraschendes durch all die erzählt werden, die sich als Produzenten ihrer Ausstellungen, Aufführungen, Internetangebote, Führungen oder Kolloquien zu einer Geschichtswerkstatt versammelt haben?

Es bleibt wohl dem Geschick der Interessierten überlassen, sich aus der weitgefächerten Programmpalette originelle, horizonterweiternde Angebote herauszupicken. Ursprünglich konzentrierte sich ja „Zerstörte Vielfalt" vor allem auf die ersten Diktaturjahre. Nun ist ein Sammelsurium daraus geworden, der Bogen spannt sich bis 1945. Um so mehr lohnt es sich, das sonst mehr von Weltkrieg und Genozid bestimmte Bild des „Dritten Reiches“ zu differenzieren, anhand der frühen Gleichschaltungsjahre Eindrücke von der Gewöhnungsphase der Tyrannei zu gewinnen: als Bürger sich zu Volksgenossen wandelten.

80 von Viertel zu Viertel „wandernde“ Litfaßsäulen vermitteln als „Thematische Ausstellungen“ eine Übersicht der Chronik 1933 bis 1938. Die Veranstalter betonen, dass der biografische Zugang ihnen besonders am Herzen liege, zahlreiche Veranstaltungen konfrontieren mit Lebensläufen und Schicksalen. Vor allem begegnen einem Verfolgte des NS-Regimes im Straßenraum: Auf 40 Litfaßsäulen „wandern“ 200 Portraits samt Vita-Information durch die Stadt, weniger Bekannte, Prominente – die Sängerin Gitta Alpár, der Ringer Werner Seelenbinder, der Physiker Albert Einstein, die Schriftstellerin Irmgard Keun ...

Am Programm fällt freilich auf, dass die „opferzentrierte“ Perspektive dominiert. Wie aber erlebte die Bevölkerungsmehrheit nach der Machtergreifung ihren Alltag: zum Beispiel das Ende der zerstörerischen Straßenschlachten, die neuen Job-Optionen? Solche Einblicke in die Basisformung der totalitären Gesellschaft kommen wenig vor. Und sollten zu ergänzen sein – zumal „Zerstörte Vielfalt“ sich als work in progress versteht. So ließe sich, vielleicht, erklären: wie aus Nutznießern Zuschauer, aus Mitläufern Handlanger werden.

Alle Veranstaltungen zum Themenjahr unter www.berlin.de/2013

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