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Thomas Derouet: ''Am schönsten finde ich, dass ich einen Freund gefunden habe''

Thomas Derouet, Jahrgang 1947, verließ seine Wohnung jeden Morgen vor Sonnenaufgang. Dann fuhr er zur Arbeit, immer auf dem Fahrrad, auch im Winter, auch bei Regen. In der U-Bahn hätte er die Blicke der anderen ertragen müssen. Diese entsetzten Blicke in sein Gesicht.

Es ist 15 Jahre her, dass die beiden sich zum ersten Mal begegneten. In einem Kreuzberger Wahllokal war das, wo sie sich als Wahlhelfer gemeldet hatten. Aus der Begegnung wuchs eine lose Bekanntschaft. Sie trafen sich höchstens drei Mal im Jahr, und immer ging die Initiative von Thomas Derouet aus. Dann holte er Herrn B., der als Mathematiker an der TU arbeitete, zum Mittagessen ab oder lud ihn zu einem Espresso ein. Treffen, bei denen er Herrn B. von seinem Leben erzählte:

Thomas Derouet verließ seine Wohnung jeden Morgen vor Sonnenaufgang. Dann fuhr er zur Arbeit, immer auf dem Fahrrad, auch im Winter, auch bei Regen. In der U-Bahn hätte er die Blicke der anderen ertragen müssen. Diese entsetzten Blicke in sein Gesicht.

Schief und verwachsen war das Gesicht. Seine hervortretenden Augen waren so empfindlich, dass sie trotz einer Spezialbrille ständig tränten, eines seiner Ohren war vorgeklappt, seine Zähne standen schief. Hinzu kam, dass er stotterte, so stark, dass er nie an sein Telefon ging. Zu groß war die Angst, dass da jemand dran sein könnte, der sein Stammeln nicht ertrug.

Ein Körper, der seinen Bewohner in Isolationshaft nahm und von Thomas Derouet entsprechend behandelt wurde. Er kleidete sich nachlässig, wusch sich selten. Die Hoffnung auf das Wohlgefallen der anderen hatte er aufgegeben. Er wollte in Ruhe gelassen werden.

Und darum mochte er seine Arbeit bei der Kfz-Steuerstelle in Weißensee. Da konnte er still und ungesehen in seinem Zimmer sitzen und Akten bearbeiten. Die Kollegen hatten sich im Laufe der Jahre an ihn gewöhnt, und die wenigen Sätze, die sie ihm dann und wann abverlangten, fürchtete er nicht mehr.

Weil er so früh anfing, war er schon um halb drei fertig mit der Arbeit. Dann begann der schwierigste Teil seines Tages: der Weg zurück nach Kreuzberg. Da musste er einkaufen gehen, musste durch die belebten Straßen, musste im Treppenhaus den Nachbarn und ihren Kindern begegnen, deren Getuschel er fürchtete.

Hatte sich die Wohnungstür hinter ihm geschlossen, belohnte er sich für die überstandene Tortur mit Kochkunstwerken und ein, zwei Flaschen Rotwein, manchmal auch mit dreien. Danach stopfte er sich ein Pfeifchen und verbrachte den Rest des Tages lesend. Philosophie interessierte ihn und naturwissenschaftliche Phänomene. Früher, als er noch wagemutiger war, hatte er mal Biologie studiert. Dass er in diesem Fach keine Anstellung fand, beklagte er nicht, er bildete sich ja Abend für Abend fort. Wenn das Amt ihm freigab, mietete er sich ein Paddelboot, schipperte durch das Berliner Umland, beobachtete und fotografierte die Natur.

Er hatte sich eingerichtet in seiner Einsamkeit. Und doch kam der Tag, an dem er die Stille um sich herum nicht mehr ertrug. Der Tag, an dem er seinen ganzen Mut zusammennahm und sich als Wahlhelfer meldete. Herr B. bemerkte schnell, welche Freude er Thomas Derouet bereitete, indem er sich weder von dem Gesicht, das ihn an Quasimodo erinnerte, noch von dem Stottern abschrecken ließ.

Es war nicht nur Mitleid, das ihn einwilligen ließ in die späteren Treffen. Tapfer fand er den anderen, klug und humorvoll. Aber auch anstrengend. Nicht nur wegen des Stotterns. Ganz trunken war Thomas Derouet von der Aufmerksamkeit des Herrn B. Immer aufgekratzter wurde er, albern, laut. „Am schönsten finde ich“, sagte er einmal, „dass ich einen Freund gefunden habe.“ Herr B. wollte solche Sätze nicht hören. Zu groß war seine Angst, dem Empfindsamen neue Enttäuschungen zu bereiten.

Ein Jahr lang hatte Herr B. nichts mehr von Thomas Derouet gehört. Dann kam der Anruf mit der Mitteilung, dass er Krebs im Mittelohr habe. In einem indischen Restaurant unterhielten sie sich über den Tod. Nein, sagte Thomas Derouet, seit jenem Tag, an dem er versuchte, sich das Leben zu nehmen, habe er keine Angst mehr vor dem Sterben. Die Vorstellung des eigenen Todes sei eine „Methode der Vorwegnahme“ gewesen, Gedanken, die er später bei Kierkegaard wiedergefunden hatte. Dass er das Gleiche gedacht hatte wie Kierkegaard, machte ihn stolz.

Das Ohr musste entfernt werden, und Herr B. stellte fest, dass Thomas Derouet jetzt aussah, wie van Gogh in seinem Selbstporträt. „Es geht schneller zu Ende als ich gedacht habe“, sagte Thomas Derouet, als Herr B. ihm drei Flaschen Dornfelder Rotwein ins Krankenhaus brachte. „Das ist schrecklich“, erwiderte Herr B. „Nein“, sagte Thomas Derouet, „nur traurig.“

„Wenn Sie nicht kommen, werden nur meine Frau und ich auf seiner Beerdigung sein“, sagte Thomas Derouets Bruder am Telefon zu Herrn B. Gerade als die kleine Gesellschaft die Kapelle betreten wollte, kamen die Kollegen vom Kfz-Amt herbeigeeilt. Thomas Derouet wurde auf einer großen grünen Wiese bestattet. Anonym. „Aber dass es ihn gab, das muss doch einmal gesagt werden“, sagt Herr B. Anne Jelena Schulte

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