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Berlin: Tod im Freien

Berlins bekanntester Obdachloser ist erfroren. Ingo vom „Kotti“ ist der erste Kältetote dieses Winters

Von David Ensikat

15 Winter, mindestens, hat er draußen verbracht. Am Kottbusser Tor hat er geschlafen, mitten auf der Verkehrsinsel. In einer der ersten kälteren Nächte, am 17. November, ist Burkhard Horstmann erfroren. Gestern wurde er beerdigt. Er war wohl der erste Kältetote dieses Winters.

Und er war der bekannteste Obdachlose dieser Stadt, es gab Geschichten im Fernsehen und in der Zeitung über ihn, die Touristenbusse sind an der Stelle, wo er schlief, langsamer gefahren. Nur als Burkhard Horstmann hat ihn niemand gekannt. Ingo haben ihn alle genannt. Und gemocht haben ihn die meisten. Nicht weil er von besonders liebenswerter Natur war; er war nur eben immer da. Sein Lager, zwei oder drei Schlafsäcke und ein Wecker – niemand weiß, wozu der einen Wecker brauchte – befand sich unterhalb der Treppe, die zur Hochbahn führt, umtost vom Kreisverkehr, für jedermann gut sichtbar. Seine Tage verbrachte Ingo auf dem Platz, da wo die Obsthändler stehen und die Junkies und die Säufer. Wer ihn freundlich ansprach, bekam auch eine freundliche Antwort – es sei denn, Ingo hatte schon zu viel getrunken.

Dass Ingo erfrieren musste, nur weil er besoffen war und nichts mehr merkte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Er war zu oft besoffen und hat doch immer seine Schlafstelle gefunden. So besonders kalt war die Nacht gar nicht, drei Grad über null, ein leichter Wind, kein Regen. Passanten fanden ihn, am Boden liegend, an der Ecke des Platzes, wo er meistens gesessen hatte. Sie legten ihn auf eine Bank, riefen die Feuerwehr, die den Tod feststellte und die Polizei herbeirief. Es war kurz vor Mitternacht. Das Obduktionsergebnis: Tod durch Erfrieren.

Unter Ingos Freunden, so weit man überhaupt von Freunden sprechen kann, geht ein Gerücht: Einer von ihnen habe beobachtet, wie am Abend zwei Uniformierte den bewusstlosen Ingo vom unterirdischen U-Bahnhof hinaufgetragen und auf sein Lager gelegt hätten – ohne ihn dort zuzudecken. Deshalb habe er sterben müssen.

Wachleute, die sich im U-Bahnhof um die Ordnung kümmern, können sich so etwas kaum vorstellen. Natürlich wussten sie alle, wo Ingo normalerweise schlief, sie kannten ihn ja alle, manch einer hat ihm auch mal einen Kaffee ausgegeben. Natürlich mussten sie sich hin und wieder um ihn kümmern, er stand ja oft genug unten im Warmen rum, und er ist auch hin und wieder an den Treppen gestürzt, je nach Alkoholpegel. Aber sie haben für solche Fälle einen genau geregelten Verhaltensplan: Fragen, ob er selbst weiterkommt – Feuerwehr rufen – Polizei rufen. Dass jemand den einfach so auf seinen Platz im Kalten bringt – „unvorstellbar, eigentlich“.

Eines ist sicher: Ingo war zuletzt sehr krank. Gealtert sei er in den letzten Monaten wie andere in Jahren, sagt Elfriede Schulte, die Schwester aus dem Krankenbus, der zwei Mal in der Woche am Platz steht und Anlaufstelle für die Fixer und Säufer ist. Da hatte Ingo sich immer Kaffee geholt, in den letzten Wochen aber nicht mehr.

Die Leute vom Fixerbus haben Ingo dann auch als Erste vermisst. Von der Polizei erfuhren sie, dass er tot ist, vom Sozialamt, wo er beerdigt wird. Vergangenen Freitag haben sie Zettel auf dem Platz verteilt mit den Angaben zur Beerdigung. Da gingen dann hin: drei Anwohnerinnen mit einem Blumenkranz, ein Hobbyfotograf und ein Praktikant vom Fixerbus.

Dort, wo Ingo seit 15 Jahren schlief, stehen jetzt drei Friedhofskerzen und eine Weihnachtskarte mit ein paar letzten Grüßen. Wenn der Wind sie bewegt, beginnt sie ein Medley der schönsten Weihnachtslieder zu quäken. Die Batterie ist schon ziemlich runter.

Ein Nachruf auf Ingo erscheint am Freitag auf der Nachrufe-Seite.

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