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Berlin: Tom-Tom Stenzel (Geb. 1981)

Zwischen Eltern und Kindern – immer dasselbe Muster.

Bei der Hausgeburt am Paul-Lincke- Ufer sagte die Hebamme zum jungen Vater, er solle die Musik weiter aufdrehen, das würde helfen. Zu lautem Raggae wurde in der Kreuzberger WG ein Junge geboren, der in der Geburtsurkunde zunächst nur „Stenzel, männlich“ hieß. Der Standesbeamte ließ den Namen „Tom-Tom“ nicht gelten. Die Eltern hatten in Jamaika die Reggae-Platte eines Musikers namens Tom-Tom gesehen, und genauso sollte jetzt ihr Sohn heißen. Am Ende bekamen sie recht, der Richter meinte, der Junge könne ja immer noch einen „Tom“ wegnehmen. Aber Tom-Tom mochte den Namen. Er konnte damit auffallen, ohne laut sein zu müssen. Aus demselben Grund trug er als Achtjähriger eine riesige weiße Pelzmütze.

Leise war er fast immer. Auch wenn er etwas erreichen wollte. Als kleines Kind wälzte er sich nie im Kaufhaus heulend auf dem Boden; er starrte einfach stumm auf den Gegenstand seiner Sehnsucht. Den Streit mit dem Mitbewohner trug er nicht laut aus. Als klar wurde, dass einer von beiden aus der WG in der Falckensteinstraße würde ausziehen müssen, harrte Tom-Tom einfach aus, bis der Freund sich geschlagen gab. Beharrlich. Konsequent. Leise.

Einmal sagte er zu seiner Mutter, es sei schon komisch, wie sich zwischen Eltern und Kindern immer dasselbe Muster abspiele. Dass Eltern immer wollen, dass ihre Kinder Dinge tun, die sie selber für richtig halten, und dass die Kinder es dann exakt andersherum tun. In Tom-Toms Fall lief es genauso. Bloß, dass die Eltern die Wilden waren: Tom-Tom hatte eine Kindheit zwischen Kreuzberg und Fuerteventura, er lebte mit seiner Mutter in einem besetzten Haus, in einer Fabriketage. Mit ihr fuhr er im Auto durch die USA und Mexiko. Und er? Er kam immer pünktlich nach Hause, er konnte mit Geld umgehen, seine Freunde erlebten ihn nie betrunken. Tom-Toms Welt war still. Er vertiefte sich in Dinge, ganz früher im Frankreichurlaub ins Brombeerensammeln, dann in Karten- und Computerspiele. Wettstreite, die er mit sich selbst ausfocht, unermüdlich, mit einer unermesslichen Frustrationstoleranz. Im Spiel verlieren konnte er schon, er tat es bloß nie.

Er liebte Rituale, feste Strukturen. Auch wenn er keine Vorlesung hatte, ging er manchmal zur Uni – wegen seiner „Mittagessengruppe“. Den Freundeskreis nannte er seine „Kreuzberger Familie“. Einmal zog er weg aus Kreuzberg, über den Kanal nach Neukölln. Und kam zurück, weil er die Telefonnummern da drüben so hässlich fand. Friedrichshain? Undenkbar!

Als seine Mutter ihn ins Bett brachte, redete der vierjährige Tom-Tom von zwei Mitbewohnern des besetzten Hauses: „Ich weiß nicht, ob ich Jan oder Alex mehr lieb haben soll. Jan hat den größeren Presslufthammer, aber Alex hat den größeren Bauch.“ Die Mutter sagte, er könne doch beide gleich lieb haben. Das wollte Tom-Tom nicht. Er wollte klare Bekenntnisse, klare Loyalität. Menschen, die er liebte: Sie konnten sicher sein, dass er immer da sein, dass er immer bleiben würde.

Als klar war, dass die Rückenschmerzen nicht vom Sport kamen, sondern vom Krebs, blieb Tom-Tom gefasst. Ein Sarkom, ein seltener, bösartiger Tumor, der sehr schnell wanderte. Als Tom-Tom schlechter sah und wusste, dass nun auch etwas in seinem Kopf saß, sagte er: „Vielleicht eine Brille?“ Als er keine Kraft mehr für die Fragen der Ärzte und Schwestern hatte und nur noch Ruhe wollte, rief er die Eltern und sagte, sie sollten ab jetzt die Dinge für ihn in die Hand nehmen. Den Satz begann er: „Also, das Ding ist …“ Ein Tom-Tom-Anfang. „Also, das Ding ist: Ich möchte meine Ruhe. Entscheidet ihr bitte ab jetzt für mich.“

Früher hatte sein Vater ihm oft vom Buddhismus erzählt. Davon, dass das Nichts etwas Erstrebenswertes sei. Dass das Nichts im Prinzip nichts, aber auch alles sein könne. Theorien, die nicht in Tom-Toms Welt passten. Zu irrational, ungreifbar, ungenau. Kurz vor seinem Tod sagte Tom-Tom zu seinem Vater, er glaube jetzt zu wissen, was mit alledem gemeint sei. Eine Ahnung zumindest habe er. Elena Senft

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