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Alle 14 Tage wird die marode Elsenbrücke in Berlin-Friedrichshain überprüft.

© Mike Wolff

„Totalschaden“ über der Spree: Die Brücke mit dem 25-Meter-Riss

Normalerweise werden Brücken alle sechs Jahre überprüft – die Elsenbrücke alle 14 Tage. Selbst Ingenieure sind erstaunt, wie marode das Bauwerk ist.

Es sind seine leuchtend braunen Augen, von denen alles abhängt. Tonnenweise Beton und Stahl, aber vor allem Menschenleben. Wie er das macht, immer mit voller Konzentration die immergleichen grauen Betonflächen anzuschauen, im Lichtkegel seiner Stirnlampe nach hauchdünnen Rissen zu fahnden, könne er auch nicht sagen. „Und dann noch im Entengang.“

Wir befinden uns in der Elsenbrücke, genau an der Stelle, die ihre Sperrung verursacht hat, vor inzwischen fast anderthalb Jahren. Der Hohlkasten unter der östlichen Fahrbahn ist ungefähr 1 Meter 20 hoch, nur watschelnd zu durchqueren. Am Boden liegen verstaubte Kabel, weiter hinten versperrt ein Laternenmast den Gang, an dem muss sich Rico Thumeyer vorbeischlängeln, dahinter kommt dann der schmale Durchlass zum nächsten Kasten.

Vier Mal 150 Meter hin und wieder zurück im Entengang. „Ein korpulenter Brückenprüfer hat hier keine Chance.“ Thumeyer ist schlank und mittelgroß, früher war er Kunstturner. Für das Brückenprüfen hat er zu seinem Studium als Bauingenieur noch eine Weiterbildung drangehängt, der Job macht ihm Spaß, weil er viel herumkommt in Berlin und Brandenburg, keine Brücke der anderen gleicht.

Als er den veritablen Riss in der Brücke bemerkte, 25 Meter lang und bis zu 1,6 Millimeter breit, war ihm schon ziemlich mulmig zumute, erzählt er. Zumal, wenn Lkw über ihn hinweg fuhren. Dann fühlt es sich in der Brücke an wie im Bauch eines Frachters bei schwerem Seegang. Sowas wie an der Elsenbrücke, diesen „Totalschaden“, hat er in seiner vierjährigen Brückenprüflaufbahn noch nicht erlebt, „sowas findet man höchst selten.“

Der Riss in der Elsenbrücke ist 25 Meter lang und bis zu 1,6 Millimeter breit.
Der Riss in der Elsenbrücke ist 25 Meter lang und bis zu 1,6 Millimeter breit.

© Mike Wolff

Normalerweise wird eine Brücke in Deutschland alle sechs Jahre einer genauen Prüfung unterzogen, die sogenannte Hauptuntersuchung, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Früher hatte die Senatsverwaltung dafür eigene Mitarbeiter, inzwischen werden ausschließlich private Ingenieurbüros beauftragt, bei der Elsenbrücke hat das Büro Bockermann-Fritze den Auftrag erhalten.

Künftig wolle man wieder eigene Prüfer einstellen, sagt Daniel Schramm von der Senatsverwaltung für Verkehr, Abteilung Ingenieurbau, Unterabteilung Erhaltung, Instandsetzung und Betrieb, „damit die Expertise nicht verloren geht“.

Die marode Elsenbrücke ist selbst Fachleuten nicht ganz geheuer.
Die marode Elsenbrücke ist selbst Fachleuten nicht ganz geheuer.

© Mike Wolff

Bei der Elsenbrücke schaut Thumeyer mit seiner Kollegin alle 14 Tage vorbei. Einen ganzen Tag lang besichtigen dann zwei Augenpaare den gesamten Unterbau der Brücke, mit besonderem Augenmerk auf die Gegend um die Spannkästen, darin liegen die Stahldrähte, die das Gewicht der Brücke halten, acht Mal 573 Drähte, jeder einzelne oval geformt und nur 4,2 Millimeter dünn, über die gesamte Länge der Brücke gespannt.

Von denen, davon gehen die Brückenexperten der Senatsverwaltung aus, sind einige gerissen, wahrscheinlich wegen Korrosion. Aber auch das sei nur die „die plausibelste Erklärung, wie es zur Rissbildung kommen konnte“, sagt Schramm. Die Stahldrähte liegen hinter einer 13 Zentimeter dicken Betonwand, eingemörtelt in einem Blechkasten. Da hineinschauen kann man nur, wenn man die Brücke zerstört.

Brückenkontrolle per Schiff

Den angenehmeren Teil der Brückenprüfung erledigen die Ingenieure vom Schiff aus. Schiffsführer Karlo Rechlin lenkt im Auftrag der Senatsverwaltung das „Argusauge“, so der treffende Name des Brückenprüfschiffs, das dem Land Berlin gehört, aber vom Unternehmen Wasserkulturbau Hönow betrieben wird.

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Rechlin lässt die Kajüte langsam in den Schiffsrumpf sinken, bis sein Kopf durch die Luke im Dach ragt, dann zirkelt er seinen Kahn zentimetergenau vor die Außenseite der Brücke und fährt die Hebebühne nach oben. Bis die Prüfer direkt vor der Betonwand stehen, hinter der sich der Blechkasten mit den Stahlstreben verbirgt.

Mit gelber Kreide sind die Risse markiert, die auf der westlichen Seite des Brückenbogens diffus verlaufen und kaum erkennbar sind, mal 0,1 Millimeter breit, mal 0,2. Thumeyer und seine Kollegin messen die Risse und dokumentieren, ob sie sich verändert haben.

Mehr braucht es nicht für eine Brückenprüfung: Geduld, Konzentrationsfähigkeit, gute Augen, Hammer und Kärtchen.
Mehr braucht es nicht für eine Brückenprüfung: Geduld, Konzentrationsfähigkeit, gute Augen, Hammer und Kärtchen.

© Mike Wolff

Auch das Datum der Rissentdeckung wird mit Kreide aufgeschrieben: HR steht für Haarriss, 13.6.19. Zwischendurch schlägt Thumeyer mit dem Hammer gegen den Beton, es klingt fast überall hart und satt, dann plötzlich hohl und dumpf, irgendwo dahinter beginnt der Totalschaden, der Beton hat sich gelöst, einige Brocken sind abgeplatzt.

Auf der noch intakten, weiterhin befahrenen Brückenhälfte sind nur wenige Haarrisse dokumentiert, mit dem bloßen Auge kaum erkennbar, harmlos, sagen die Fachleute. Manche Risse erweisen sich beim Abtasten als Spinnweben.

Die Elsenbrücke ist selbst den Fachleuten nicht ganz geheuer

Mehr braucht es nicht für eine Brückenprüfung: Geduld, Konzentrationsfähigkeit, gute Augen, Hammer und Kärtchen. Weil die Elsenbrücke den Fachleuten aber nicht ganz geheuer ist, der Totalschaden quasi über Nacht auftrat, es sich zudem um einen atypischen Riss handelt, der gängigen Schadensbildern widerspricht, tun sie alles, was derzeit technisch möglich ist, um die Brücke noch intensiver zu überwachen.

Ein Gerät misst ständig die Distanzen zu einzelnen Messpunkten, die breiteren Risse werden per Sensor fernüberwacht. Doch der Versuch, per Ultraschall ins Innerste der Brücke zu schauen, misslang. Nun überlegen Schramms Kollegen, einen Schallsensor zu installieren, der „hören“ kann, wenn hinterm Beton ein Draht reißt. Wenn allerdings plötzlich alle Streben reißen, wie in Genua, schützt das auch nicht vor dem Einsturz.

Totalschaden. So etwas wie hier hat Brückenprüfer Rico Thumeyer noch nie gesehen.
Totalschaden. So etwas wie hier hat Brückenprüfer Rico Thumeyer noch nie gesehen.

© Mike Wolff

Es bleibt wie immer ein Restrisiko. An einer Stelle habe man durch den Beton gebohrt, sogar den Kasten mit den Stahlstreben geöffnet, dahinter sah alles normal aus, sagt Schramm. Aber 20 Zentimeter tiefer oder daneben bleibt alles im Dunkeln. „Ein Schaden kündigt sich an, und zwar durch kleine, nur für geschulte Augen sichtbare Risse im Beton“, erklärt Schramm.

Das bestätigt auch Thumeyer. Ihre Maxime fußt auf der Erfahrung, dass in Deutschland noch keine Spannbetonbrücke eingestürzt ist. Wer regelmäßig nach Rissen schaut, ist wohl auf der sicheren Seite.

Abrissarbeiten beginnen im Frühjahr

Seit der Sperrung der Brücke habe sich das Bauwerk praktisch nicht mehr bewegt, sagt Thumeyer. Umso ermüdender ist für ihn das ständige Kontrollieren der immergleichen Betonwände. Wenn im Frühjahr der Abriss des schadhaften Brückenteils beginnt, wird er von der Hälfte seiner Last erlöst sein.

Auch der noch intakte westliche Brückenteil, der täglich von Tausenden Autos und Lkw befahren wird, soll abgerissen werden, sobald eine Behelfsbrücke fertig ist. Die Elsenbrücke hat das Vertrauen der Brückenbauer komplett verloren. Und mit ihr die Mühlendammbrücke, die nach demselben Verfahren gebaut wurde. „Sowas wie bei der Elsenbrücke möchten wir nicht noch einmal erleben“, sagt Schramm.

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