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History sells. Nazi- und Ost-West-Grusel zieht Touiristen genauso an wie Kultur, Clubs, Grün, Platz und der Reiz des unfertigen im verglichen mit anderen Metropolen urban weit weniger verdichteten Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Tourismus: Berlin - die eroberte Stadt

Mit dem gemütlich Unter-sich-Sein ist es für die Berliner vorbei. Nie war die Stadt bei Touristen beliebter, nie waren die Straßen voller. Viele haben die ausgetretenen Pfade verlassen und die Kieze entdeckt. Die Einheimischen reiben sich verdutzt die Augen über die Veränderungen.

Plötzlich kommen Touristen. Vor einem halben Jahr ging es los. Der Dönermann blies Luftballons auf, rüstete zum Spätkauf hoch und hängte Banner raus: „Alcoholic beverages 30% cheaper“. Der Zeitungsmann holte die Berliner Boulevardblätter rein und stopfte „El Pais“, „Libération“, „Corriere della sera“ und „International Herald Tribune“ in den Ständer. Um die Ecke wuchs über Nacht ein Geldautomat aus der Wand. Und ein trendiger Burgerladen öffnete mit Verkehrssprache Englisch an drei von vier Tischen. Endlich: Die Welt hat die Pannierstraße in Berlin-Neukölln entdeckt.

Und nicht nur sie, sondern die ganze Stadt. Berlin ist der Renner unter den Reisenden aus aller Welt. Soeben konnten die vor Glück über so viel Zuneigung fast betäubten Stadtwerber von Berlin Tourismus Marketing wieder ihre Glocke läuten: 1,9 Millionen Übernachtungen im Juni – Rekord!, 9,6 Millionen im ersten Halbjahr – Rekord!, vergangenes Jahr 19 Millionen Übernachtungen insgesamt – Rekord!, in diesem erhoffte 20 Millionen – Rekord!, kurz: Die Stadt ist Touristenmagnet Nummer eins unter den deutschen Städten und in Europa stolze Nummer drei hinter Paris und London.

Womöglich wird trotz Kriegen und Mauer in einem zu großstädtischer Normalität zurückgekehrten Berlin doch noch wahr, was sich die Metropole mit dem weltweit ersten Stadttourismus-Slogan überhaupt 1928 auf die Fahnen schrieb: „Jeder einmal in Berlin!“ 1990 nach dem Mauerfall übernachteten gut sieben Millionen Gäste in der Stadt und seit dem Jahr 2000 ist die Ziffer vor der Million zweistellig mit heftig steigender Tendenz.

Ein Mirakel sei das, sagt Hasso Spode vom Historischen Archiv Tourismusforschung der Freien Universität. Das habe kein Experte erwartet, dass Berlin auch ohne Mauer so attraktiv sein könne. Und Burkhard Kieker, Chef von Berlin Tourismus Marketing, sieht die neuerdings auch von Brasilianern, Indern und Chinesen wiederentdeckte, sich überall fast von selbst verkaufende Weltstadt gar als „wieder aufgetauchtes Atlantis“.

Der Tourismus ist mit 250 000 Beschäftigten und einem Umsatz von neun Milliarden Euro im Jahr der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Ein sympathischer Gedanke: Das Wohl und Wehe der nachindustriellen Stadt hängt an Leuten, die jodelnd auf dem Bierbike Unter den Linden entlang gondeln, Clubs in Prenzlauer Berg oder Kreuzberg verstopfen, am Holocaust-Mahnmal picknicken und sich auf der ulkigen, unbehausten Spielwiese Pariser Platz zum Stelldichein mit Gauklern und sich selber treffen.

„Touristen sind ja immer die anderen, nie man selber“, sagt Ulrich Reinhardt, Nachfolger von Freizeitforschungspapst Horst W. Opaschowski am Hamburger Institut für Zukunftsfragen. Obwohl der Stadtreisende dem ihn belächelnden oder von ihm genervten Berliner ähnlicher ist als dieser ahnt. Die meisten sind ebenfalls Städter und durchaus gebildet. Das passt zur kleinen Spontanumfrage zwischen Potsdamer und Pariser Platz, wo die große weite Welt im Windschatten von Familien, Cliquen, Paaren aus Rheinland-Pfalz oder Taiwan erregend nach Penatencreme, Zitrusshampoo und Sandelholz duftet. Brandenburger Tor, Checkpoint Charlie, Museumsinsel – die Erstbesucher bleiben fern vom Kiez und rutschen lieber in Mitte die Polyglott-Route lang, wie Burkhard Kieker das nennt. Der Stadttourist will was erleben, wovon er zu Hause erzählen kann, sagt Ulrich Reinhardt: „Teil des Ganzen sein, des größeren Bildes, der Atmosphäre.“ Das kann er an den Hotspots wie Regierungsviertel oder Fernsehturm, als junger Easyjet-Touri beim Pubcrawl in der Oranienburger Straße oder im wahren Berliner Leben, also dem Kiez.

„Ameisenstraßen“ nennt BTM-Chef Kieker die Pfade der Reiseführer lesenden und der Mundpropaganda folgenden, fortgeschrittenen Touristen. Sie führen in die Oranienburger, zum Hackeschen Markt, Kollwitz- oder Boxhagener Platz, die sich so kommerzialisieren, dass vom eigentlichen Flair nichts bleibt. Der Ort wird ein nur noch von Touris besuchtes „Abziehbild“, wie sie jede Großstadt kennt, beispielsweise Piccadilly Circus oder Carnaby Street in London. Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet, wusste schon Hans Magnus Enzensberger, wobei er als Stadt- im Gegensatz zum Naturtourist gleichzeitig etwas Neues, nicht automatisch Schlechteres schafft.

Die neugierigen Ameisen jedenfalls, die seit einer Weile für jeden sichtbar in den Kiezen herumkrabbeln, verändern ihn natürlich, meint der Stadtsoziologe Andrej Holm. Kneipen und Hostels dominieren die Gewerbestruktur wie am Rosenthaler Platz. Die grassierende Ferienwohnungsvermietung wie in der Wilhelmstraße, im Bötzowviertel oder in der Bergmannstraße reduziert bezahlbaren Wohnraum. Und wo viele Menschen sind, sei auch immer Lärm und Müll. Da seien Senat und Bezirke gefordert.

Das findet auch die Architektin und Stadtplanerin Jana Richter von der Technischen Universität, die kürzlich das Buch „The Tourist City Berlin“ herausgebracht hat. Die Boomtown Berlin brauche endlich ein touristisches Leitbild, sagt sie. Und zwar ein positives: Tourismus sei was Gutes und ließe sich zur Gestaltung des öffentliche Raumes einsetzen – mit ökologischen Konzepten, Mischnutzungen, Aufwertung von Quartieren. Natürlich muss Veränderung sein, ein kuschelig konservierter Kiez stirbt. Doch „die Kiezidentität lässt sich mit Hilfe des Tourismus weiterentwickeln“.

Dass eine Stadt, die vom Tourismus lebt, was dafür tun muss, dass der Nervfaktor zwischen Einheimischen und Touris gering bleibt, die Gäste möglichst umweltverträglich transportiert und untergebracht werden, gescheite Leitsysteme oder ganz banal Toilettenhäuschen brauchen, ist inzwischen auch beim Senat angekommen. Da liefen erste Gespräche für ein neues, die Stadtentwicklung einbeziehendes Tourismuskonzept, sagt Burkhard Kieker. Allerdings soll es erst 2015 kommen.

Den satten Disneyland-Effekt übrigens, der sich an Orten wie dem Budenparadies Checkpoint Charlie einstellt, findet kaum ein Wissenschaftler und schon gar kein Tourist dramatisch. „Was wir für authentisch halten, das ist es auch“, sagt Kulturhistoriker Hasso Spode und ein das Kontrollhäuschen musterndes Ehepaar aus Ferrara fragt: „Ach, sah das hier früher anders aus?“

Aus Touris können sogar Kiezbewohner werden. Das Fremdenverkehrsneuland Neukölln hat inzwischen zwei Hostels, ein drittes wird gerade gebaut. Im „Rixpack“ an der Karl-Marx-Straße brutzeln Heath und seine fünf schwarz gekleideten Kumpels aus London gerade in der Küche ihr Abendbrot. Sie sind 20, Kunststudenten, weitgereist, voller Ideen und auf Galerien- und Clubtour in der Stadt. Nicht zum ersten Mal. London sei schön und traditionell, sagt Heath, aber Berlin einzigartig und bezahlbar. Wenn sie ausstudiert haben, wollen sie wiederkommen und hier leben. Ein paar Monate mindestens, möglichst länger. Plötzlich kommen Touristen. Und manchmal bleiben sie zum Glück auch.

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