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Das Nikolaiviertel gilt als Höhepunkt der DDR-Plattenbaukunst. Und mit der Nikolaikirche steht dort das älteste Gebäude Berlins.

© imago/imagebroker

Touristenhochburg Nikolaiviertel: Auferstanden aus Ruinen

Noch vor gut 35 Jahren war das Nikolaiviertel nur eine große Brache. Nun aber ist es eine blühende Stadtlandschaft.

„Ecclesia S. Nicolai confessoris in Berlin – die Kirche des heiligen Bekenners Nikolaus in Berlin“ – sucht man für das Nikolaiviertel in Mitte nach einem Gegenstück zur Gründungsurkunde Berlins, der ersten schriftlichen Erwähnung der alten Doppelstadt Berlin-Cölln von 1237, so landet man immerhin im Jahre 1264. Damals gewährte Bischof Heinrich von Brandenburg allen reuigen Sündern, die besagtes Gotteshaus am Jahrestag seiner Weihung besuchten und an diesem oder jedem anderen Tag für dessen Ausbau spendeten, einen großzügigen Dispens von „40 Tagen Fasten von der ihnen auferlegten Pönitenz“. Leider ist dieses Schreiben, anders als Berlins „Gründungsurkunde“, nicht erhalten, Datum und Zitat gelten aber als gesichert.

Diese archivalische Lücke mag Stadthistoriker betrüben, für die jetzt von den Behörden, wie berichtet, sehr konkret ins Auge gefasste Unterschutzstellung des Nikolaiviertel als Flächendenkmal ist der frühe Ablassbrief freilich ohne Bedeutung. Er steht für den Wert des Areals zwischen Spreeufer, Rathausstraße, Spandauer Straße und Mühlendamm als, neben Cölln, eine der zwei Geburtsstätten Berlins.

Originale Bausubstanz gibt es im Nikolaiviertel nach den Kriegszerstörungen nur in Ausnahmen, auch wenn einige Gebäude rekonstruiert wurden.
Originale Bausubstanz gibt es im Nikolaiviertel nach den Kriegszerstörungen nur in Ausnahmen, auch wenn einige Gebäude rekonstruiert wurden.

© Thilo Rückeis

Der angestrebte Schutz allerdings zielt weder aufs Jahr 1264 noch 1237, vielmehr auf 1987, als das Viertel, rechtzeitig zur 750-Jahr-Feier der Stadt, nach sechsjähriger Bauzeit seiner Bestimmung übergeben wurde: 800 moderne Wohnungen für 1500 Mieter, Geschäfte unter Arkadengängen, Lokale, dies alles überwiegend aus vorgefertigten Teilen in historisierender Manier gefertigt, dazu einige architektonische Kleinode Alt-Berlins rekonstruiert, die Kirche wieder zu alter Schönheit zusammengemörtelt. Sie kann nun für sich beanspruchen, zumindest in einigen originalen Teilen das älteste Bauwerks Berlin zu sein.

Dem Stadtbild touristenfreundlich für 260 Millionen Mark wieder eingefügt vom Architekten Günter Stahn, tendiert das Viertel ohnehin baulich wie historisch zu Superlativen. Die kleinste Straße Berlins? Es ist die Eiergasse zwischen Mühlendamm und Nikolaikirchplatz – der Name verweist auf die früher dort am Molkenmarkt angebotene Ware: 16 Meter lang, zwei Häuser nur, das Antiquariat Nikolaus Struck zur Rechten, das Restaurant „Zum Paddenwirt“ zur Linken. Letzteres ist mit einer Legende verküpft, nach der einem Wirt vor langer Zeit ein Fass Bier auslief, an dem sich bald tausende Kröten, „Padden“ eben, gelabt haben sollen. Und man weiß ja, wie lautstark Betrunkene nach mehr Bier zu verlangen belieben.

Der Zweite Weltkrieg hinterließ das Nikolaiviertel als Trümmerlandschaft.
Der Zweite Weltkrieg hinterließ das Nikolaiviertel als Trümmerlandschaft.

© picture alliance / dpa

Andere Nachbauten verweisen auf noch ältere Berliner Traditionen. Die Gerichtslaube des alten Berliner Rathauses etwa, auch dies eine Kopie, während das Original jetzt im Schlosspark Babelsberg steht. Manchem armen Sünder mögen dort grausame Strafen auferlegt worden sein, heute speist man in Alt-Berliner Ambiente. Rund zwei Dutzend Restaurants stehen dem Hungrigen im Nikolaiviertel zur Verfügung, darunter das Gasthaus „Zum Nussbaum“, in dessen historischen Vorbild es sich schon Heinrich Zille, Otto Nagel und Claire Waldoff gut ergehen ließen, oder aber das Lokal „Zur Rippe“. Das heißt nicht etwa wegen der dort angebotenen Speisen so, sondern wegen seines bereits um 1700 erwähnten Wahrzeichens an der Fassade, um das sich allerlei Legenden ranken. Deren wahrscheinlichste deutet den alten Knochen als Teil eines Walskeletts, der es als Kuriosität irgendwie bis nach Berlin geschafft hat und den Berliner Fischern eine Ahnung davon gab, was für dicke Tiere es anderswo zu fangen gab.

Das alles wirkt, auch über drei Jahrzehnte danach, ebenso künstlich wie idyllisch, ist auf jeden Fall ein Besuchermagnet, was noch immer kaum fassbar erscheint, betrachtet man sich Fotos aus der Endphase des Krieges: Ein einziges Trümmerfeld, von der Kirche das Dach komplett abrasiert, die Türme ohne Spitze, die Wohnhäuser ausgebrannte Ruinen in unterschiedlichen Stadien der Zerstörung. Es wurde danach nicht besser über die Jahrzehnte. Die DDR setzte auf neue Plattenbauten, die alte Bausubstanz fand wenig Beachtung und verfiel immer mehr. „Außer den Außenmauern von St. Nikolai standen da noch ganze fünf intakte Häuser, mehr nicht“, hatte sich der im Dezember 2017 gestorbene Architekt Günter Stahn vor Jahren erinnert.

Architekt Günter Stahn, fotografiert im Nikolaiviertel.
Architekt Günter Stahn, fotografiert im Nikolaiviertel.

© Doris Spiekermann-Klaas

Das Besondere in seiner Aufgabe sah er darin, „den historischen Bezug zum Gründungsort Berlins wiederherzustellen und die älteste Pfarrkirche wieder in einen städtebaulichen Rahmen zu fassen“. Zu seinem Leitbild sei „die Urbanität der frühbürgerlichen Stadt“ geworden. „Aus einem Guss entstanden“, habe das neue Nikolaiviertel allerdings „nicht die Legitimität des allmählich Gewordenen und nicht das Bild ,malerischen’ Reizes im Sinn zufälligen Entstehens“. Besucher wie Bewohner stört das offenkundig nicht.

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