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Berlin: Tragischer Tod: Nachbarn geben Behörden Schuld am einsamen Tod einer 87-Jährigen

Nach dem Tod einer Hilfe bedürftigen Frau im Villenviertel in Grunewald werfen Nachbarn den zuständigen Behörden Untätigkeit vor. Anwohner hatten wiederholt Polizei, Feuerwehr sowie den Sozialpsychiatrischen Dienst auf die lebensbedrohliche Lage der 87-Jährigen aufmerksam gemacht, die in einer verwahrlosten Wohnung dahinvegetierte.

Nach dem Tod einer Hilfe bedürftigen Frau im Villenviertel in Grunewald werfen Nachbarn den zuständigen Behörden Untätigkeit vor. Anwohner hatten wiederholt Polizei, Feuerwehr sowie den Sozialpsychiatrischen Dienst auf die lebensbedrohliche Lage der 87-Jährigen aufmerksam gemacht, die in einer verwahrlosten Wohnung dahinvegetierte. Doch weil sie selbst jede Hilfe ablehnte, sah niemand einen Anlass, die sterbende Frau in eine Klinik einzuweisen.

Hildegard Paul starb allein hinter verschlossenen Türen und einer eingeschlagenen Wohnzimmerscheibe. Seit Tagen waren die Jalousien vor den Fenstern des Einfamilienhauses in der Gneiststraße in Grunewald nicht mehr hochgezogen worden, den Schornstein bedeckte eine Schneehaube. Als Feuerwehrleute am 25. Februar gewaltsam in die Wohnung eindrangen, fanden sie die 87-Jährige tot auf dem Boden liegen. "Die Kriminalpolizei teilte uns mit, dass die alte Frau erfroren oder verhungert ist, wahrscheinlich beides", sagt Heidi Wohlfeil.

"Unwürdig, hilflos und einsam" sei Hildegard Paul gestorben, sagt die Nachbarin. Frau Paul lehnte es ab, sich helfen zu lassen. "Keine Behörde kann tätig werden, ohne dass der Betroffene einwilligt", sagt Martina Schmiedhofer, Sozialstadträtin in Charlottenburg-Wilmersdorf. Frau Paul starb demnach streng nach den Buchstaben des Gesetzes.

Die Chronik des Falls: Seit Jahren lebt Hildegard Paul zurückgezogen in ihrem Haus in Grunewald. Nachbarn beobachten eine schleichende Verwahrlosung des Grundstücks. "Seit vier Jahren hatte sie kein fließendes Wasser, sie heizte ihre Wohnung nicht mehr", erzählt Bernd Mohrmann aus dem Haus gegenüber. Als die Jalousien im Februar für mehrere Tage verschlossen bleiben und Hildegard Paul auch den Mülleimer nicht mehr an die Straße stellt, alarmieren Nachbarn erstmals die Polizei. Die Streifenbeamten unternehmen jedoch nichts, weil sich die 87-Jährige jede Hilfe verbittet.

Elf Tage vergehen ohne ein Lebenszeichen von Hildegard Paul, ehe Bernd Mohrmann die Feuerwehr ruft. Er ist besorgt, der Nachbarin könne etwas zugestoßen sein. Am Morgen des 22. Februar fahren zwei Mannschaftswagen der Feuerwehr und eine Polizeistreife vor der Gneiststraße Nummer 4 vor. Doch die 87-jährige Bewohnerin reagiert weder auf Klopfen noch Klingeln. Feuerwehrmänner stemmen die Jalousien am Frontfenster auf und schlagen die Scheibe ein. Hildegard Paul "wurde liegend im Schlafzimmer vor dem Bett gefunden. Frau P. war ansprechbar und im vollen Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten", steht im Bericht der Streifenbeamten vom Polizeiabschnitt 25, der am Tag darauf beim Sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirksamtes eingeht. Wörtlich heißt es weiter: "Frau P. lehnte eine ärztliche Betreuung ab und wollte weiterhin in der Wohnung verbleiben." Die Beamten sehen daher wiederum keinen Anlass, Hildegard Paul von einem Arzt untersuchen zu lassen. Und das, obwohl der Bericht nahe legt, dass die alte Frau dringender Hilfe bedurft hätte: "In der Küche wurde seit längerer Zeit kein Geschirr sauber gemacht, Essensreste vergammeln. Im Flur des Obergeschosses wurden Berge alter schmutziger Wäsche angehäuft. Die gesamte Wohnung riecht nach Urin."

"Trotz der winterlichen Temperaturen hielt es die Feuerwehr nicht für notwendig, die eingeschlagene Fensterscheibe reparieren zu lassen", sagt Heidi Wohlfeil. "Ein Feuerwehrmann erklärte mir, das müsse die Frau selbst veranlassen." Noch am Nachmittag ruft sie beim Sozialpsychiatrischen Dienst des Bezirks an, der sie an die "Beratungsstelle für über 60-jährige Mitbürger" verweist. Aber auch dort sieht man sich nicht in der Lage zu helfen. "Mir wurde gesagt, dass unbedingt ein Amtsarzt die Frau begutachten müsse, nur über diesen Weg könnte sinnvolle Hilfe kommen."

Erst auf ihr erneutes Drängen hin kommen am 23. Februar, einem Freitag, zwei Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes in Begleitung einer Neurologin zum Haus in die Gneiststraße. Doch Hildegard Paul öffnet nicht, "ein Lebenszeichen ist ebenfalls nicht zu entdecken", vermerkt der Mitarbeiter vor Ort. Mit dem Hinweis auf den zentralen Krisendienst des Landes verabschiedet er sich vom Nachbarn Bernd Mohrmann ins Wochenende und bittet ihn, am Montag im Büro anzurufen.

Doch Mohrmann will nicht mehr warten. Am Sonntag alarmiert er erneut die Feuerwehr. Doch da ist es bereits zu spät. Hildegard Paul liegt tot in ihrer Wohnung. "Die Frau ist elendig zu Grunde gegangen. Und niemand hat etwas unternommen", sagt Bernd Mohrmann.

Auf die Empörung der Nachbarn reagieren die Behörden mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. "Aufgabe der Polizei ist es, Gefahren für Gesundheit und Leben des Betroffenen abzuwehren", erklärt Polizeisprecher Norbert Grunkel zu dem Fall. "Offenbar lag eine solche Gefahr nach Einschätzung der Einsatzkräfte vor Ort nicht vor. Das Bezirksamt ist informiert worden. Dort hätten weitere Schritte unternommen werden müssen."

Sozialstadträtin Schmiedhofer räumt zwar ein, die Zusammenarbeit der Behörden sei "nicht befriedigend" gewesen, doch sieht die bündnisgrüne Politikerin die Verantwortung vor allem bei der Polizei. Sie allein hätte die Lage vor Ort einschätzen und eine Zwangseinweisung in eine Klinik veranlassen können. Auch so kann passive Sterbehilfe aussehen.

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