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Berlin: Training für Dornröschen und Cinderella

Andrey Klemm tanzt vor und 60 Frauen tun es ihm nach. Denn er ist Trainer des Staatsballetts

Schwer übt sich, was ein Dornröschen sein will. Oder ein Schwan. Oder Cinderella. Es ist kurz vor halb elf, gleich beginnt das Training des Staatsballetts. 60 Tänzerinnen sind gerade dabei, ihre Muskeln zu lockern und Dehnübungen zu machen. Die Sonnenstrahlen tauchen das neue Dachstudio der Staatsoper in ein freundliches Licht. Die Spiegelwand an der Rückfront lässt den geräumigen Saal mit dem schwarzen Tanzboden noch größer erscheinen, in dem Ballettmeister Andrey Klemm gleich den Takt vorgeben wird. In einer komfortablen Ecke wartet Pianistin Marita Mirsalimowa am Flügel auf ihren Einsatz. Noch scherzt sie mit dem Choreographen Boris Eifmann, der sich hinterher mit Klemm darüber austauschen wird, welche Tänzerinnen für bestimmte Rollen in Frage kommen.

Punkt halb elf erklingt ein durchdringender Klavierakkord. Die Ballerinen stellen sich an den Stangen auf, die kreuz und quer im Raum verteilt sind, und lauschen den Anweisungen ihres Übungsleiters. Derweil gleitet der Mann in Trainingshose und Ballettschuhen durch die Reihen. Klemm stammt von der weltberühmten Moskauer Bolschoj-Schule. Er strahlt Kraft und Ruhe aus, seine aufrechte Körperhaltung suggeriert Selbstbewusstsein. Auch wenn nichts seinem aufmerksamen Blick zu entgehen scheint, wirkt keine der Frauen nervös.

„Von Beginn an werden in den Übungen alle Körperpartien mit einbezogen“, sagt Klemm. Immer achtet er darauf, dass das tänzerische Element nicht zu kurz kommt. Manchmal gibt es ein kurzes Zwiegespräch oder eine Hilfestellung. „Das Training folgt keinem Ritual, sondern es wird fast ausschließlich improvisiert“, sagt der Russe, dessen Nachname seine deutschen Wurzeln verrät. Die Kommunikation mit der Pianistin funktioniert fast nonverbal, in nahezu unsichtbarem Einverständnis werden die Einheiten abgestimmt. Sie dauern kaum einmal länger als fünf Minuten und gehen fast unmerklich ineinander über.

Noch ein Mann ist im Saal, der in seinem farbenfrohen Outfit fast wie ein Paradiesvogel wirkt: Vladimir Malakhov, Solotänzer und Intendant des Staatsballetts. Während der gesamten 90 Minuten mischt er munter mit. Dass er zwischendurch mit der Pianistin scherzt oder Übungen nicht vollendet, zeigt seine Sonderstellung. Er lacht viel und wirkt so jungenhaft, fast lausbübisch, dass man sich ihn nur schwer in der Rolle des Intendanten vorstellen kann.

Nach den Übungen an der Stange werden Schrittfolgen geprobt, die Andrey Klemm vorgibt und anzählt. Mühelos schweben die Tänzerinnen auch durch diese Trainingseinheiten. Inzwischen ist es etwas stickig geworden im Studio, was aber niemanden stört. Jetzt stehen Sprünge und Drehungen auf dem Programm. Die Ballerinen stellen sich vor der Spiegelwand auf, um ihre Bewegungsabläufe zu kontrollieren. Kurze Stücke von Tschaikowsky oder Chopin werden speziell für das Balletttraining improvisiert. Andrey Klemm, der mit einer Tänzerin aus der Truppe liiert ist, tanzt vor und gibt knappe, genaue Anweisungen. Fast nie wird er laut, das Verständnis mit den Tänzerinnen aus 26 Ländern bedarf keiner großen Worte.

Der 38-Jährige, der auch schon mit Rudolph Nurejew gearbeitet hat und seit 1997 in Berlin tanzt und lehrt, wechselt mühelos von einer Sprache in die andere: Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch. Er fühle sich wie ein Dirigent, der ein Orchester führt, sagt er. Sein Vorbild: Naum Asarim, bei dem er selbst seine Ausbildung am Bolschoj-Theater absolvierte. Klemm achtet jedoch nicht nur auf die tänzerische Qualität. Denn neben der technischen Perfektion ist die innere Einstellung wichtig. Der Balletttrainer spricht von einer Vision, die Tänzer benötigten, um ihre Bühnenrollen überzeugend zu verkörpern.

Nach den anderthalb Stunden intensiver Übungen gilt es, zur Ruhe zu kommen und den Körper mit Lockerungsübungen (ports de bra) wieder in einen entspannten Zustand zu versetzen. Das ist in etwa das, was für Fußballprofis das Auslaufen nach dem Spiel bedeutet. Es ist Punkt zwölf. Das Training ist vorbei, die Tänzerinnen wirken erschöpft, aber glücklich. Und die schönste Bestätigung für Andrey Klemm? „Wenn sie hinterher zu mir kommen und fragen, wann das nächste Mal Training bei mir ist“, sagt er und grinst. Denn das passiere ihm oft.

Mehr zum Thema im Internet unter www.staatsballett-berlin.de

Lutz Steinbrück

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