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Bitte ruhig bleiben. Die Dekontaminierungsaktion am Mauerpark war nur ein Spiel. Im Ernstfall würden Strahlenopfer aber mit funktionstüchtigen Geigerzählern untersucht werden.

© Gregor Fischer/dpa

Tschernobyl-Jahrestag: Ärzte proben Super-Gau am Mauerpark

Da der Flohmarkt, hier die simulierte Katastrophe: Ärzte fordern das Aus des Wannsee-Reaktors und spielen Super-GAU, auf den Tag genau 29 Jahre nach Tschernobyl. Statt Jodtabletten verteilen sie Bonbons.

Mit einem gelben Schutzanzug bekleidet steht Alex Rosen vor einem Dekontaminationszelt auf der Schwedter Straße am Mauerpark. Während sich die Menschenmassen wie an jedem Sonntag bei strahlendem Wetter in Richtung Flohmarkt schieben, heult ein Warnton los und Rosen greift zum Megafon. „Die Medien berichten, dass es eine Explosion und ein Feuer gab, schwarzer Rauch hängt über dem Helmholtz-Zentrum Berlin.“ Dort befindet sich der Forschungsreaktor, 23 Kilometer entfernt in Wannsee. Hier habe es kurz zuvor einen Zwischenfall gegeben, verkündet der Mediziner. Weil die atomare Wolke nun wahrscheinlich auch Prenzlauer Berg erreicht habe, sollten sich alle Bürger zum Zelt begeben, um dort versorgt zu werden.

„Keine Angst, ist nur gespielt“, sagt eine weitere Ärztin zu Passanten, die verwundert stehen geblieben sind. Doch aus dem Spiel könnte leicht Ernst werden, meint die deutsche Sektion „Ärzte-Vereinigung IPPNW“ anlässlich des 29. Jahrestag des Tschernobyl-Unglücks. Deshalb hat sie am Sonntag diese Aktion geplant, zwischen Parkbesuch und Kaffeepause.

„Wir wollen hier keine Panik machen, sondern aufklären“

Vier Kilometer rund um den Reaktor müssten evakuiert werden, im Umfeld von acht Kilometern würden die Menschen aufgerufen, zu Hause zu bleiben. Zugleich müssten dort Jodtabletten verteilt werden, um Schilddrüsenkrebs vorzubeugen. „Der Katastrophenschutzplan sieht nicht vor, dass die radioaktive Wolke bis ins Zentrum kommt“, sagt Alex Rosen.

Aglaja Fichter aus Prenzlauer Berg wusste bisher nichts von dem Berliner Forschungsreaktor.
Aglaja Fichter aus Prenzlauer Berg wusste bisher nichts von dem Berliner Forschungsreaktor.

© A. Pohlers

Sollte der Wind aber aus Süd-West blasen, könnte der Acht-Kilometer-Radius schnell überschritten werden. Seine Schlussfolgerung: Massenpanik. Die Krankenhäuser seien darauf gar nicht vorbereitet. Deshalb fordern Rosen und seine Mitstreiter die Abschaltung des 42 Jahre alten Reaktors. „Wir wollen hier keine Panik machen, sondern aufklären“, sagt Vereinssprecherin Angelika Wilmen. Im Störfallregister des Bundesamtes für Strahlenschutz belege der Berliner Reaktor unter den Forschungsreaktoren mit 70 meldepflichtigen Ereignissen den Spitzenplatz. Gegen Terroranschläge oder einen Flugzeugabsturz wäre er kaum gefeit.

Dekontamination statt Flohmarktbesuch

Aglaja Fichter wohnt gleich um die Ecke vom Mauerpark und wollte eigentlich nur auf den Flohmarkt. Nun steht sie im Zelt. Ihre Rolle: Sie ist kontaminiert. Das Zählrohr des Geigerzählers wandert an ihrem Körper entlang, mehrfach piept das Gerät. „Sie müssen abgeduscht werden“, sagt der Mann im Plastikanzug und will Fichters fast dreijährige Tochter untersuchen. Der Kleinen machen die gelben Gestalten und das Messgerät Angst, sie schreit und wehrt sich.

„Ich wusste bisher gar nichts von diesem Reaktor“, sagt Aglaja Fichter, die jetzt theoretisch ihre Kleidung abgeben müsste. Ihre Tochter bekommt Jodtabletten, in diesem Fall sind es Schokolinsen. An die Erwachsenen verteilen die Ärzte „Super-GAU akut“, Packungen mit 18 Pfefferminzbonbons. Wer älter als 45 Jahre ist, geht wegen des geringeren Risikos von Schilddrüsenkrebs leer aus. „Mir wurde jetzt gesagt, ich müsste zu Hause bleiben und abwarten“, sagt die junge Mutter. Aber wie dann an die Jodtabletten kommen? Als Fichter am Ausgang des Zeltes ankommt, sind die vermeintlichen Medikamente fast leer.

Fakten zum Helmholtz-Zentrum

Das Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie (ehemals Hahn-Meitner-Institut) in Wannsee betreibt einen Forschungsreaktor, der nicht der Energiegewinnung, sondern als Neutronenquelle allein der Analyse von Materialien dient. Da er nicht gegen Flugzeugabstürze gesichert ist, spielt er auch in den Diskussionen und im juristischen Streit um die Zulässigkeit der Wannseeroute vom Flughafen BER aus eine Rolle.

Anfang der sechziger Jahre liebäugelte der Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt mit einem Atomkraftwerk auf der Pfaueninsel, um die westliche eingemauerte Stadthälfte auf dem Energiesektor autark zu machen. Die Bundesregierung lehnte diese Pläne aber ab und dabei blieb es.

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