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Türken nach der Wende: "Wir mussten uns noch weiter hinten anstellen"

Durch neues deutsches Selbstwertgefühl verdrängt: Warum Türken sich als Verlierer der Wende fühlen.

Die Migrantenviertel Berlins liegen überwiegend in der Innenstadt – ein ungewöhnlicher Umstand, der von den Stadtplanern so nicht vorgesehen war. Doch das hat einen einfachen historischen Grund: Vor der Wende waren die Wohnungen nahe der Berliner Mauer unsaniert und unbeliebt und wurden freimütig an ausländische Arbeiter vermietet. Man ging in Westberlin davon aus, dass sie sowieso wieder gehen. Doch die Gastarbeiter sind geblieben, die Mauer fiel, und heute liegen die Einwandererviertel mitten im Zentrum.

Die größte Gruppe, die damals rund 130 000 Türken, erlebten den Fall der Mauer am 9. November 1989 also direkt vor ihrer Haustür.Viele lachten, weinten und feierten mit. Auf dem Obst- und Gemüsemarkt am Kreuzberger Maybachufer, so heißt es, wurden in den Tagen danach „Ossis“ von Verkäufern beschenkt und von Kunden umarmt. „Wir sind ein Volk, hayrola!“ (endlich).

Der Mauerfall hat nicht nur Deutschland verändert. Er hat auch Spuren im Alltag der türkischen Community hinterlassen. Um diesen auf den Grund zu gehen, lud die Türkische Gemeinde Deutschland (TGD) zu einem Gespräch in den Martin-Gropius-Bau ein. Und siehe da, Mauerfallanekdoten gibt es auch unter Berliner Türken unzählige.

TGD-Vorsitzender Kenan Kolat etwa erinnerte sich an freudentaumelnde Landsleute, an seine Verwunderung über die langen Begrüßungsgeld-Schlangen vor den Berliner Banken. Aber auch daran, dass eine der ersten Begegnungen mit einer Frau aus der EX-DDR einen unangenehmen Beigeschmack hatte. „Wie, Sie leben schon seit über 20 Jahren hier? Warum gehen Sie nicht zurück in die Heimat?“ habe sie Kolat wohlmeinend gefragt. Da ging ein Raunen durch den Raum mit den rund vierzig Zuschauern, Kopfschütteln. Die Zuhörer – überwiegend aus dem türkischen Bildungsbürgertum – kennen solche verblüffenden Fragen. Aber sie mögen sie nicht.

Viele Türken glauben, dass sich solche Ausgrenzungen im Alltag nach 1990 vermehrt haben, wie die Migrationsforscherin Nevim Cil erklärte. Sie stellte ihre Doktorarbeit vor, für die sie mit 16 türkischen Jugendlichen und Erwachsenen zahlreiche Interviews geführt hat: „Topografie des Außenseiters – Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess“, lautet der Titel der Arbeit.

Ihr Fazit: Für viele Türken sei der Mauerfall „eine Zäsur“. Die Hoffnung, im neuen Deutschland als Alteingesessene angesehen zu werden, wurde enttäuscht. Vielmehr hatten Türken das Gefühl, sie müssten sich noch weiter hinten anstellen, als vorher. Und laut Cil beobachteten viele, dass ausländerfeindliche Sprüche unbekümmerter geäußert wurden. Ein neues deutsches Selbstbewusstsein sei damals entstanden, das die Türken als Prototyp des Ausländers ausschloss. Und das setze sich bis heute fort. Mit der Ankunft der Ostdeutschen fühlten sich viele Türken zurückgesetzt.

Die Wende war auch eine Zäsur im Erwerbsleben vieler Türken, ganz besonders in Westberlin. Nach der Wiedervereinigung setzte hier in den 90er Jahren ein rasanter Arbeitsplatzabbau ein. Die bis dahin vorhandene Berlinförderung im Westen der Stadt fiel ebenso weg, wie die Großkombinate im Osten. Zählte die gesamte Berliner Industrie vor zwanzig Jahren noch rund 380 000 Beschäftigte im Industriesektor, so waren es 2007 nur noch knapp 100 000. Besonders hart traf das ehemalige „Gastarbeiter“, die als Ungelernte nach Deutschland gekommen waren. Viele von ihnen sind bis heute arbeitslos. Türken kommen in Berlin auf eine Erwerbslosenquote von über 40 Prozent, hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 2008 ermittelt. Jeder zweite türkische Mitbürger habe hier keine reguläre Beschäftigung.

Enttäuschend war die deutsche Einheit für viele Türken daher nicht nur emotional, sondern auch wirtschaftlich: Der Mauerfall versprach unternehmerischen Pionieren anfangs ein neues Terrain. Sie wurden im türkischen Gründerboom in den 90er Jahren aktiv. „Von Rostock bis Dresden entstanden viele neue türkische Unternehmen“, sagt Bahattin Kaya von der Türkischen Gemeinde Deutschland. Zunächst. Doch dann habe sich die Anfangseuphorie schnell gelegt. Heute gebe es in den neuen Bundesländern nur rund dreitausend solcher klein- und mittelständischen Firmen – weit weniger als erwartet. „Viele haben Angst vor ausländerfeindlichen Übergriffen“, erklärt Bahattin Kaya.

Die Arbeitslosigkeit, darin waren sich im Gropius-Bau alle Anwesenden einig, ist ein Problem. Sie verhindere die Integration ihrer Landsleute in Stadtgebieten wie Neukölln, Kreuzberg oder Wedding. Ein Zuschauer fragt am Ende der Veranstaltung: „Wie lange mag es wohl dauern, bis wir Ausländer integriert sind, wenn sogar die Ostdeutschen nach 20 Jahren in den Köpfen immer noch Außenseiter sind?“ Eine Antwort blieb der Abend schuldig.

Ferda Ataman

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