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Berlin: Ulrike van den Berg (Geb. 1961)

Sie machte Pläne, fühlte sich kräftig genug, wieder zu unterrichten

Diese dritte Klasse hatte bereits drei Lehrern jeden Mut genommen. Der Direktor der Reinhardswald- Grundschule in Kreuzberg überlegte hin und her. „Vielleicht“, begann er stockend und fuhr mit einem „möglicherweise“ fort, und Ulrike unterbrach ihn und sagte: „Ja“, worauf die Rede des Direktors in Fahrt kam: „Hauptsache du schaffst es, eine Klassengemeinschaft zu bilden. Das Lernen kommt dann später.“

Papierkugeln fliegen durch den Raum, ein Junge krakelt komische Gesichter auf die Tafel, ein anderer zieht ein kreischendes Mädchen an den Haaren, ein Grüppchen von kleinen Schönheiten beugt sich kichernd über ein Comic-Heft. Die Klassenzimmertür geht auf. Und bis auf einen einzigen Witzbold sind alle augenblicklich still und mustern neugierig die junge Frau in Jeans und T-Shirt. Sie hat gerade ihr Referendariat beendet. „Guten Morgen“, sagt sie freundlich, „ich bin eure neue Lehrerin.“ Auch der Witzbold vergisst, dass er eigentlich eine spaßige Bemerkung machen wollte. So eine Stimme hat er noch von keiner Lehrerin gehört, rau – die Leute fragen Ulrike oft, ob sie erkältet ist – und ohne einen falschen Ton.

Ulrike mischt sich unter die Kinder, sie tritt auf jeden zu, stellt Fragen und hört zu. Sie unternimmt Ausflüge und Klassenfahrten, von denen auch der Schwierigste nicht ausgeschlossen wird. Sie springt als Erste in den See und berührt einen Fußball nicht nur zaghaft mit der Schuhspitze. Schon als Kind im Münsterland war sie lieber lärmend mit den Jungs übers Feld gerannt, als mit den Mädchen Puppen herauszuputzen. Sie findet auch deutliche Worte: „Hör endlich auf, dich zu kloppen“, woraufhin der Raufbold sagt: „Ja Vani, dir verspreche ich es.“

„Frau Vani“ konnte unglaublich lustig sein, auch unter Erwachsenen. Zu jeder Kollegiumsfeier brachte sie ihre Musik mit, sang und tanzte und trank. Und am Ende des Abends schob sie Stühle und Tische beiseite und schlug Flickflacks, landete trotz Schwips sicher auf den Füßen und lachte laut.

Ein genauer Beobachter bemerkte, dass das Lachen eine Spur zu laut war, dass die Ausgelassenheit ein wenig scharf und schrill wirkte, hörte ein Gelächter, das die Dämonen in ihrem Kopf übertönen sollte. Früher hatte sie sich ins Auto gesetzt und war mal schnell nach Hamburg oder Amsterdam gefahren, war ins Kino und in Ausstellungen gegangen.

Sie wusste ziemlich genau, seit wann die Energie aus ihr wich, seit wann sie einerseits gleichgültiger und andererseits ruheloser geworden war. 16 Jahre hatte sie mit einem Mann zusammengelebt, war für ihn nach Berlin gezogen. Und dieser Mann hatte sie verlassen.

Sie war schön, auf eine herbe Art, und glaubte nicht an diese Schönheit. Sie war eine hervorragende Lehrerin, eine weitherzige Freundin und verkroch sich in einem schattigen Winkel, in den ihr niemand folgen konnte. Sie hätte gern ein Sabbatjahr genommen, sich ausgeruht, aber die Furcht, danach an eine andere Schule versetzt zu werden, hielt sie ab. Denn ihre Schule, ihre Kinder, waren ihr Leben.

Trotz der Krankheit, trotz der Chemotherapien wollte sie ihre sechste Klasse bis zum Ende des Schuljahres begleiten, wollte die Zeugnisse schreiben, wollte jedem Kind Glück wünschen auf seinem Weg. Sie fuhr zur Erholung an die Nordsee, spazierte den Strand entlang, fotografierte die flache, raue Landschaft und das Meer, kroch heraus aus ihrem schattigen Winkel. Sie machte Pläne, fühlte sich kräftig genug, wieder zu unterrichten, vielleicht erst mal nur wenige Stunden.

Aber der Krebs ist ein boshafter Blender, er kam zurück mit aller Wucht. Schwach und schmal lag sie in ihrem Krankenhausbett, und um sie standen und saßen ihre Freundinnen und die Kinder ihrer Klasse. Tatjana Wulfert

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