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Sarggeschichtenerzähler Sarah Benz und Jan Möllers.

© Kitty Kleist-Heinrich

Umgang mit den Toten: Leben und sterben lassen

Sie wuchs neben dem Friedhof auf und merkte: Die Menschen reden gern über ihre Toten. Doch im Alltag spielen sie keine Rolle. Sarah Benz will das ändern – mit praktischen Tipps.

Da liegt sie, blass, in weißem Hemd und Unterhose. Die Tote, der nun etwas anzuziehen ist. Zuerst der Pullover. Mit der eigenen Hand von außen durch die Ärmelöffnung und die Hand der Frau ergreifen, den Stoff überstreifen. Zweite Seite. Dann ihre Arme halten, den Kopf leicht anheben und die Halsöffnung des Pullovers drüber, die Tote leicht auf die Seite drehen – an Schulter und Hüfte festhalten, dann geht das leichter – und: den Pulli vorsichtig runterzuppeln. Leggings, Rock, ein bisschen Gesichtscreme, Lippgloss, die Lieblingssocken.

Man muss mindestens zu zweit sein für eine Totenfürsorge.

Wusstet ihr schon? Hat die Totenstarre bereits eingesetzt, kann man die auch wegdehnen. Wie beim Sport.

Wahrscheinlich wusstet ihr das nicht.

Der kurze Film bei Youtube, in dem eine im wahren Leben natürlich sehr lebendige Tote so liebevoll umsorgt wird, ist der neuste aus der Reihe der „Sarggeschichten“. Das Berliner Projekt hat mittlerweile neun Videos produziert, jedes wenige Minuten lang, die sich mit Themen rund um Tod, Trauer und Sterben beschäftigen. „Wie macht man eine tolle Trauerfeier?“ heißt eines, „Braucht man zum Sterben einen Arzt?“ ein anderes. Oder eben: „Wie versorge ich einen Toten?“ Wusstet ihr schon? – die Frage taucht in jedem Film auf. Meistens wusste man das, was dann kommt, tatsächlich nicht.

Die Idee dazu hatte vor knapp zwei Jahren Sarah Benz. Und wenn man ihr sagt, dass die Sarggeschichten ein wenig an die Sendung mit der Maus erinnern, dann freut sie das. Weil ihr selbst erteilter Auftrag ähnlich ist: den Menschen, kleinen und großen, etwas erklären.

Wusstet ihr schon? Ihr dürft einen verstorbenen Menschen mindestens 36 Stunden zu Hause behalten, um euch in Ruhe zu verabschieden.

Ein Sarg am Schlüsselbund

Sarah Benz trägt Grün. Das tut sie meistens, denn es ist ihre Lieblingsfarbe. Und es sieht besonders charmant aus, wenn sie zu Beginn der Sarggeschichten auf einem leuchtend rot angemalten Sarg Platz nimmt. Sarah Benz arbeitet als Notfallseelsorgerin und sie leitet ein Trauercafé in Zehlendorf, wo sich all jene treffen, die nach einem Verlust in Gemeinschaft trauern und Trost finden möchten. Sie gibt auch Kurse zum Thema, zum Beispiel für Eltern, die mit ihren Kindern über den Tod sprechen wollen. Sie ist Musikerin – und natürlich musiziert sie auch bei Trauerfeiern. Zum ersten Treffen in einem Neuköllner Café hat sie einen roten Miniatursarg mitgebracht, so groß wie ein Brillenetui, der steht nun mitten auf dem hellen Tisch. Luis heiße der Sarg, erzählt Sarah Benz, und dass sie gerade an Schlüsselanhängern basteln, das wären dann Luischen. Sie lacht.

Mit einem Sarg am Schlüsselbund, wer würde so herumlaufen wollen? Beim Auf- und Abschließen der Haustür an jedem Morgen und Abend erinnert werden ans Ende des Lebens? Aber darum geht es ja hier. Tod und Sterben gehören zum Leben. Deswegen gibt es die Sarggeschichten.

Gedreht wurden die auch schon am Neuköllner Richardplatz. Denn dort ist der rote Sarg untergebracht, der sich schwer transportieren lässt.

Samstagvormittag, kalter Wind, und nun einmal mit dem Sarg durch die Straßen rundum. Soll ein Foto werden, wird zum Feldversuch: konfrontiere die Menschen mit einer Requisite ihrer eigenen Endlichkeit. Autofahrer gucken, Kinder wundern sich, zwei türkische Damen halten entsetzt inne. „Was’n ditte?“, fragt der Bärtige auf der Parkbank, als der Sarg auf einem Wägelchen an ihm vorbeigerollt wird. Kopfschüttelnd hält er sich an seiner Bierflasche fest: „Dithabickjanochniejesehn!“ Einen Sarg, echt?

Ein Format entwerfen, das sich nicht in erster Linie an Trauernde richtet; das auf Themen aufmerksam macht, die alle Menschen betreffen; das Möglichkeiten aufzeigt, das war die Idee hinter den Sarggeschichten. „Die Leute kommen gar nicht drauf, was sie alles machen können mit ihren Toten, zu einer Beerdigung und drum herum“, sagt Sarah Benz. Eine kurze Recherche bei Youtube ergab – nichts Vergleichbares zu finden in Deutschland.

Die neue Sichtbarkeit des Todes

Dabei sterben hier jährlich rund 860 000 Menschen, in Berlin waren es im vergangenen Jahr 34 048. Immerhin 186 von insgesamt 224 Berliner Friedhöfen sind geöffnet. Und rundum leben vom Sterben: Floristen, Gärtner, Betreiber von Krematorien, Musiker, Steinmetze und Bestatter.

Erst seit ein paar Jahren scheint sich etwas zu ändern im Umgang mit unseren Toten. Der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho hat 2011 einen Sammelband herausgegeben, dessen Titel vielsagend lautet: Die neue Sichtbarkeit des Todes. Wurden die Toten ab dem 19. Jahrhundert zum Sterben häufig in Kliniken und anschließend vom Leichenschauhaus auf einen Friedhof abgeschoben, so kehren sie nun zurück, sozusagen. In Form von „Tatort“-Leichen, von „CSI“-Pathologie und blutdurchtränkten skandinavischen Krimiserien. Tatsächlich auch in einer immer lauter hörbar werdenden Diskussion um Bestattungspraktiken, um Sterbehilfe und Trauer.

Die Sarggeschichten sind ein Teil dieser neuen Sichtbarkeit.

Sarah Benz ist gerade 38 Jahre alt geworden und wenn man nun fragte, was so eine junge Frau sich denn ständig mit dem Ende des Lebens beschäftigen muss, dann wäre man genau den Konventionen und Klischees aufgesessen, gegen die sie sich wehrt.

In den Sarggeschichten gibt es keine Nebelschwaden über Seen, Trauerweiden und Sonnenuntergänge. Weil all dies schon ein vorgefertigtes Bild bieten würde, keinen Raum für eigene Gedanken. Da gibt es auch kein betroffenes Wegsehen oder verschämtes Herumdrucksen, sondern beispielsweise eine freundlich lächelnde junge Frau, die „heute unsere Tote“ spielt. Die Filme seien „unrealistisch“, lautete schon manches Mal Kritik. Aber natürlich!

Stattdessen steht da dieser rote Sarg mitten auf einem Gehweg in der Stadt und der Zuschauer erfährt, wie gut es tun kann, die tote Oma noch einmal zu streicheln, weil Begreifen doch von Anfassen kommt und so ein Tod ja auch irgendwie verstanden werden muss. „Die Leitung zwischen Kopf und Herz ist lang“, sagt Sarah Benz.

Wo sind all die Toten?

In ihrem Leben waren Tod und Sterben niemals Themen, über die nicht geredet wurde. Ihre Kindheit verbrachte sie in einem kleinen Ort nahe Dresden, der Vater war dort Pfarrer, das Haus der Familie lag neben einem Friedhof, die beste Freundin war die Tochter des Friedhofsmeisters und ihr Spielplatz der Friedhof selbst. „Ich sah oft Leute, die Gräber pflegten, und habe die gefragt: Wer liegt denn hier? Wie ist der gestorben?“ Es folgte die nicht unwesentliche Erfahrung: Die Menschen reden oft ganz gern über ihre Toten.

Bald schon beschwerte sie sich bei ihrem Vater: „Es ist gemein, alle haben hier ein Grab zum Pflegen, nur ich nicht.“ Okay, sagte der Vater, komm mit. Und er wies ihr das alte Grab eines Pfarrers zu, um das sie sich kümmern durfte, das sich infolgedessen immer sehr ordentlich geharkt präsentierte. Als die Familie 1988 nach Berlin-Pankow zog, wunderte sich das Mädchen, dass rund um die Kirche kein Friedhof lag: Wo sind die denn alle? Wo bringen die ihre Toten hin?

Nach Pankow I, II, III, IV, zu den Friedhöfen ohne Namen.

In den Jahren sind Sarah Benz Freunde verstorben und Großeltern. Doch wenn sie von ihnen spricht, dann klingt das auf eine das Leben in Gänze umarmende Weise noch immer so: als gehörten sie dazu.

Wusstet ihr schon? Wie man sich erinnert und wie man sich verbunden fühlt, verändert sich mit der Zeit. Wenn es euch einengt, macht das Erinnern kleiner. Wenn ihr das Bedürfnis nach mehr habt, macht es größer.

Inspiration für die Sarggeschichten war auch Caitlin Doughty, eine US-amerikanische Bestatterin, Autorin und Youtuberin. Ein bisschen kitschig, aber auch sehr lustig beantwortet sie auf ihrem Kanal „Ask a Mortician“, frag einen Bestatter, allerlei Fragen rund um den Tod. Weniger handlungsorientiert als die Sarggeschichten, aber unterhaltsam-kurios: Können sich Leichen in Stein verwandeln? Was geschah mit den Toten der Titanic? Was ist die schlimmste Art zu sterben? Doughty hat rund 300 000 Abonnenten – eine Zahl, von der die Sarggeschichten natürlich noch entfernt sind, die haben etwa 180. Einer ihrer ersten Filme allerdings wurde 4000-mal schon aufgerufen: Was kann ich sagen, wenn jemand gestorben ist?

Dasein und Unterstützen ist genug

„Wir denken immer, wir müssten etwas ganz Großartiges sagen“, erklärt Sarah Benz. Aber so ist es ja gar nicht. Dasein und Unterstützen, das sei schon genug.

Und selbst das ist schwer. Niemand weiß das besser als Sarah Benz, die im Zehlendorfer Trauercafé gelegentlich hört: „Mich ruft überhaupt niemand mehr an.“ Als wäre der Tod eines geliebten Menschen eine ansteckende Krankheit, als sollte man Kontakt mit Trauernden meiden, um nicht selbst, ja was eigentlich, traurig zu werden? Tot? Niemand, der je selbst so einen großen Verlust gespürt hat, kann ermessen, wie sehr das Schweigen der Freunde schmerzt – wenn man sie am dringendsten braucht. Wie gut selbst eine wortlose Umarmung tut. „Eure Freunde werden nicht plötzlich zu anderen Menschen, wenn sie trauern“, erklärt Sarah Benz im Video.

Und doch wirkt es manchmal so. Als verwandle die Trauer uns nahe Menschen in unerreichbare, zerbrechliche Gestalten.

Der Tod erschüttert uns zutiefst. Er überfordert unser Gehirn, das einen so großen Verlust zu verarbeiten versucht. Das limbische System, zuständig für Gefühle, ist besonders betroffen. Die Amygdala, der Ort, an dem die eingehende Information über den Tod eines geliebten Menschen bewertet wird, funkt Alarm. Im Hirnstamm wird daraufhin der Botenstoff Noradrenalin produziert, was wiederum besondere Impulse auslöst. Panik. Flucht. Aggression. Erst dann wird geprüft, was passiert ist. Kann es wirklich wahr sein? Und weil die Amygdala beständig weiterfunkt, wird alsbald alles geprägt von Gefühl, jeder Gedanke, jede Überlegung. Wer trauert, der erstarrt, mag nicht essen und kann nicht schlafen; der vergisst die kleinsten Kleinigkeiten. Dessen ganzer Körper ist eine einzige emotionale Reaktion.

Man kann es deswegen auch ruhig einmal sagen wie Jan Möllers: „Das ist große Scheiße mit dem Sterben.“

Möllers, 40 Jahre alt, ist alternativer Bestatter, seit sieben Jahren betreibt er gemeinsam mit seinen Kolleginnen Gabriele Kohn und Judith Giese „memento Bestattungen“ in Friedenau. Und er ist der zweite Kopf hinter den Sarggeschichten.

Zugehörige stabilisieren

Sarah Benz und er lernten sich bei einer Podiumsdiskussion im Stadtteilzentrum Mittelhof in Zehlendorf kennen, wo Sarah das Trauercafé leitet. Bei memento bemalten sie am Tag der offenen Tür gerade einen Sarg, als Sarah hereinkam und ihm von ihrer Idee für die Kurzfilme erzählte. Schnell hatte die beiden circa 50 Themen, über die sie die Menschen unbedingt informieren wollten. „Also haben wir ein Ranking gemacht“, sagt Jan Möllers: „Was braucht die Welt?“

Für die ersten Filme erhielten sie finanzielle Unterstützung von der Deutschen Palliativstiftung. Die ermöglichte es ihnen, Ton und Schnitt von Profis machen zu lassen. Nun aber steht ein Spendenaufruf online. Nur ein Bruchteil der vielen Ideen ist abgearbeitet, schon sollte das Geld ausgehen? Was brauchen trauernde Kinder? – das würden sie gern erklären. Oder wie das genau funktioniert mit der Feuerbestattung, im Krematorium.

Von dort kommt Jan Möllers an einem Tag Ende Oktober, Treffpunkt sind die Räume von memento, hell und freundlich, ein Altbau mit Dielen und Stuck. Es gibt keine Engel, Kreuze oder andere religiöse Symbole. Auf die Zugehörigen soll nichts projiziert werden. Weil das Gegenteil das Ziel ist: Wer hierher kommt, soll – in aller Klarheit – seine persönlichen Bedürfnisse erkennen können. Und auch selbstbestimmt durchsetzen.

So entsteht vielleicht die Idee zu einer Trauerfeier mit Musikern aus der Familie und vielen Geschichten über den Verstorbenen. Oder in Stille. So wird vielleicht der Wunsch geäußert, die Beisetzung noch ein wenig hinauszuzögern. Und noch ein bisschen mehr – wenn das möglich ist, bitte. Bis das Loslassen erträglicher ist.

„Ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell es geht, dass Leute ,aufmachen‘ und mir zeigen, was sie brauchen“, sagt Jan Möllers. „Zugehörige stabilisieren und unterstützen“, das sei seine Aufgabe.

Hineinsinken in Schweigelücken

Jan Möllers und Sarah Benz sagen „Zugehörige“. Weil „Angehörige“ so viele ausschließt, die sich einem Toten noch, ja eben zugehörig fühlen. Freunde zum Beispiel. Es ist nur ein kleines Wortspiel, aber es sagt viel über ihre Sicht auf diese Menschen.

Jan Möllers hat eine sanfte Stimme und Menschen, die ihn öfter bei Trauerfeiern erleben, erzählen, er sei ein sehr guter Redner. Weil er mit Bedacht spricht. Und Pausen macht. Wer, dem gerade ein lieber Mensch verstorben ist, weiß das nicht zu schätzen? Solche Schweigelücken, in die man ein bisschen hineinsinken darf. Sie beide, Sarah Benz und Jan Möllers, sind aufmerksame Zuhörer, die ihr Gegenüber so unverwandt ansehen, als könne allein ein offener Blick schon Halt bieten.

Ist es okay, wenn ich meinen toten Vater waschen und anziehen will?

Ist es okay, wenn ich das nicht will?

Darf ich mein verstorbenes Kind bei mir tragen?

Können wir unseren Toten ins Krematorium begleiten?

Es ist ein Fehler zu glauben, selbstbestimmt bedeute stets auch ausgefallen. Und doch tut es gut, die Freiheit zu haben.

Wusstet ihr schon? Eine Trauerfeier muss nicht unbedingt auf einem Friedhof stattfinden. Eigentlich geht auch jeder andere Ort.

Jan Möllers sagt: „Ich empfinde Freude darüber, wie vielfältig Menschen sind.“ Wie unterschiedlich ihre Bedürfnisse. Mit Mitte 20 begann er als Bestatter zu arbeiten – nachdem er sich im kulturwissenschaftlichen Studium mit Abschieds- und Übergangsritualen beschäftigt hatte. Den Gedanken aber trug er schon länger in sich. Seit seiner Jugend, als der Vater starb.

Was passiert beim Sterben?

Wer stirbt, der bleibt dein Mensch. Für immer. Einerseits. Andererseits gibt es diesen Moment, auch Sarah Benz spricht darüber, wenn im Sarg eben nicht mehr dein Mensch ist, sondern nur noch ein toter Körper. Das kann man nicht erklären, nur fühlen. Und man weiß auch nicht, wann das geschieht. Nach zwei Stunden, zwei Tagen oder drei.

„Das provozierende Rätsel des Todes“, schreibt Thomas Macho, „besteht nicht allein darin, dass der Tote ,fortgeht‘, sondern dass er ,bleibt‘; als ein veränderliches, aber auch beständiges ,Material‘ (…), als elementare Widersprüchlichkeit des ,Bleibenden‘: Fleisch verwest, die Knochen dauern, Haut lässt sich konservieren, die Eingeweide hingegen nicht.“

Was passiert beim Sterben? Mal abgesehen vom Organversagen, vom letzten Atemzug. Wir wissen es nicht. Das eigene Sterben entzieht sich unserer Kontrolle. „Man fällt ins Träumen und die Welt verschwindet“, schreibt der berühmte Soziologe Norbert Elias in „Über die Einsamkeit der Sterbenden“. Aber ist das so? Es hat noch niemand davon berichtet, sie lassen uns ja allein, die Toten. Wir, die niemand gefragt hat, ob wir einverstanden sind mit diesem Tod, ob wir bereit dafür sind, müssen loslassen. Und weiterleben. So schreibt auch die Dichterin Mascha Kaléko: „Bedenkt, den eignen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“ Wie nur?

Leichter wird es, wenn man sich von seinem Toten verabschieden kann. Davon sind Sarah Benz und Jan Möllers überzeugt. Dazu passt, was sie erzählen: Dass es in Berlin mittlerweile eine Art Trend zur Hausaufbahrung gebe. Damit sich alle, die wollen, vom Toten verabschieden können. Dass Sterben, selbst wenn es im Krankenhaus oder Pflegeheim geschah, nicht bedeutet, dass ein Mensch sofort verschwindet.

Abschied ist wichtig

„Tote Menschen werden einem so schnell weggenommen, aber es sind immer noch unsere Menschen“, sagt Sarah Benz. Natürlich bestehe die Angst, beim intensiven Abschiednehmen ein bestimmtes Bild vom (toten) Menschen zu bekommen und bei sich zu tragen. „Aber so ein Bild kann man beeinflussen“, sagt Benz, „und ändern.“ Indem man etwas tut, zum Beispiel. Die Kopfhaltung des Toten leicht verändern, wenn sie einem so ganz untypisch erscheint. Die Lieblingsklamotten überstreifen. Etwas zu tun zu haben, waschen, ankleiden, könne helfen. Natürlich müsse man sich mit einem Toten erneut vertraut machen, dessen Haut sich anders anfühlt, der kalt ist. „Es ist in Ordnung, wenn man eine Reaktion darauf hat“, sagt sie. Nicht in Ordnung ist es, wenn man die Gelegenheit zu so einer Begegnung gar nicht bekommt.

Und sie erzählt die Geschichte von einer Frau, deren Mann bei einem Unfall schwer entstellt wurde. Trotzdem wollte sie ihn noch einmal sehen. Das Krankenhaus war entsetzt. „Doch woher wissen andere, was jemand verkraften kann?“, fragt Sarah Benz. „In solchen Momenten scheinen wir immer zu wissen, was für andere gut ist.“ Das Krankenhaus versorgte den Mann, die Frau durfte ihn sehen – und sich verabschieden. Natürlich ist der Mann eine Leiche, aber „das ist ja auch immer noch Herr XY“, sagt Sarah Benz.

Wusstet ihr schon? Früher war es ganz normal, dass Menschen nach ihrem Tod noch zu Hause aufgebahrt wurden.

Heute muss man den Mut erst einmal aufbringen, dem Arzt im Krankenhaus zu sagen: Ich möchte, dass meine Mutter, mein Sohn, mein Großvater noch einmal zu uns nach Hause kommt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dieser Wunsch nach einem Abschied in aller Ruhe, und was steht ihm schon entgegen? Krankenhausabläufe, Dienstpläne, das angeblich Übliche, Vorstellungen von anderen, Fremden. Also gar nichts.

„Ich hatte meine Mutter drei Tage lang zu Hause“

Es geht darum, sich zuzutrauen, so etwas zu machen, erklärt Jan Möllers. „Man denkt immer, die Toten müssen schnell weg, aber das ist ja nicht so.“ Möllers steht im Festsaal des Lazarus Hospizes in der Bernauer Straße. An einem Abend Anfang November feiert hier die neue Sarggeschichte „Wie versorgt man einen Verstorbenen?“ Premiere. Es sind so viele Menschen gekommen, dass die aufgestellten Stühle gar nicht ausreichen. Hinter den Stuhlreihen setzen sich manche auf Tische, schieben Stühle von anderswo heran.

Viele derjenigen, die gekommen sind, haben eine solche Situation in einem Krankenhaus oder Pflegeheim offenbar schon erlebt. Während Jan Möllers redet, nicken im Publikum Köpfe.

Stillschweigen während des sieben Minuten langen Films.

Auf der Leinwand klettert die „Tote“ auf eine Liege, lässt Jan Möllers und Sarah Benz zeigen, wie sanft das Gesicht gewaschen werden kann – wenn man das möchte –, wie Pullover, Leggings und Rock angezogen werden. Applaus. Und viele Wortmeldungen.

„Ich hatte meine Mutter drei Tage lang zu Hause“, flüstert eine Dame ihrer Begleitung zu.

„Mein Mann starb mit 40. Ich habe ihn gar nicht angefasst, das würde ich heute anders machen.“

„Ich habe es nicht schnell genug ins Krankenhaus geschafft, da war mein Mann schon in der Pathologie. Ich musste kämpfen, ihn noch einmal sehen zu dürfen. Im Flur. Das war so brutal, das wünsche ich niemandem.“

Tot sein heißt, den Lebenden eine Beute sein

Aber geht es denn immer nur um Abschied? Ist es nicht auch ein Beistehen, den geliebten Menschen nicht alleine lassen in den Stunden nach seinem Sterben? Vielleicht sogar im Krematorium – denn selbst das ist möglich.

„Natürlich spreche ich mit den Toten“, sagt Jan Möllers.

„Tote sind schutzlos“, sagt Sarah Benz.

Tot sein heißt, den Lebenden eine Beute sein, schreibt Jean-Paul Sartre. Denn der Tote kann seinem Leben keinen Sinn mehr geben, das können nur mehr die anderen für ihn tun.

Das Ohnmachtsgefühl im Angesicht des Todes ist enorm. So groß, dass, erzählt Jan Möllers, manche es lieber eintauschen gegen eine Schuldzuweisung. Ich bin schuld am Tod meines Kindes, denn ich habe nicht gemerkt, wie schlecht es ihm geht. Ich bin ein Mörder – der Gedanke sei manchen lieber. Im Trauerprozess ist so eine Schuldzuweisung eine akute Überlebensstrategie, aber langfristig nicht hilfreich.

Zugleich bringt einem jeder Tod die eigene Endlichkeit vor Augen, über deren Wann und Wie wir keine Macht haben. Wer denkt, dass Menschen wie Sarah Benz und Jan Möllers, jene also, die sich täglich mit dem Tod auseinandersetzen, keine Angst davor haben, der irrt.

Der Angst einen Platz geben

„Ich gewöhne mich an die Arbeitsschritte, aber nicht an die Thematik“, sagt Jan Möllers, ein paar Tage nach der Filmpremiere. Die beiden sitzen im Café des Hospizes. Und Sarah Benz erzählt über ihre Tätigkeit als Notfallseelsorgerin: „Natürlich gibt es Tage, an denen es krass ist und ich noch viel darüber nachdenke.“ Vielleicht ist die Beschäftigung mit dem Sterben auch eine Art, der Angst einen Platz zu geben. So werden Berufe gefunden. So entstehen Zeitungsartikel. Oder Sarggeschichten.

Ein heilsamer Nebeneffekt des Nachdenkens über den Tod: Das Leben kommt einem gleich noch mal so kostbar vor. Damit es irgendwann weitgehend selbstbestimmt enden kann, gibt es zum Beispiel Vorsorgevollmachten. Auch so etwas, über das die Sarggeschichten informieren.

Wusstet ihr schon? Die Form einer Vorsorgevollmacht ist nicht vorgeschrieben. Theoretisch könntet ihr auch ein Video aufnehmen.

Niemand muss mit Mitte 30 seine Beerdigung planen. Aber vielleicht macht es ja Sinn, sich zu überlegen, wer entscheiden soll, wenn man es selbst nicht mehr kann. Der Partner? Die beste Freundin? Die Tochter? Kein leichtes Gespräch, aber auch ein befreiendes.

„Die Tage, die man am Anfang des Lebens hat, sind so wichtig wie die in der Mitte und die am Ende“, sagen Sarah Benz und Jan Möllers.

Aber vielleicht wusstet ihr das auch schon.

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