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Berlin: Und plötzlich war der Maurer weg

Norbert Raasch baute am Betonwall mit Er nutzte den Einsatz, um in den Westen zu flüchten

Wer ihn für diesen Auftrag ausgewählt hat, weiß er nicht. Aber seit Monaten wartet er auf diese Gelegenheit. Nun ist sie da. Norbert Raasch von der Brigade „Bauhof Mitte“ wird zur Bernauer Straße 43 abkommandiert. Und er weiß: Dort, ganz dicht an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin, wird er seine Chance bekommen. Zur Flucht. Zur Liebe. Zur Freiheit – einer lebenslangen Bindung.

Nur eine kleine Hürde muss Raasch noch nehmen. Wenige Wochen nach dem 13. August 1961 ruft der Polier seine Genossen zusammen. Dann baut er sich vor Raasch auf, blickt ihm in die Augen und sagt: „Du gehst nicht mit, Du haust doch ab!“ Der Polier weiß von Raaschs Freundin in West-Berlin. „Mach kein’ Quatsch“, entfährt es Raasch. Da lacht der Polier los. Aus Freude über einen gelungenen Scherz? Oder weil er den Schrecken in den Augen seines Genossen gesehen hat? Raasch weiß es bis heute nicht. Er weiß nur: Er fuhr mit zur Grenze. Um mit an der Mauer zu bauen, aber nur um das Bollwerk, das Ost und West trennen sollte, für immer hinter sich zu lassen.

Raasch war einer von Tausenden: Maurer, Lastwagenfahrer, Straßenarbeiter, die aus Betrieben abgezogen wurden, um die „Mauer der ersten Generation“ zu errichten, wie Forscher Hans-Hermann Hertle sie nennt. Der Einsatz begann in der Nacht zum 13. August: Der S-Bahn-Verkehr wurde eingestellt, Straßensperren und Stacheldrahtverhaue errichtet. „Der Mauerbau war aber anfänglich nicht vorbereitet, sondern nur die Abriegelung West-Berlins“, sagt Hertle.

Das eigentliche Ziel der Blockade sei es ja gewesen, einen Friedensvertrag zu vereinbaren, der die drei Westsektoren Berlins zur „freien Stadt“ erklärt hätte, kontrolliert von der Deutschen Demokratischen Republik. Denn das hätte den Flüchtlingsstrom über West-Berlin gestoppt – Anfang der 60er Jahre entkamen neun von zehn DDR-Bürger über die schwer kontrollierbaren Grenzen der „Frontstadt“. Eine Mauer wäre nach diesem Vertrag nie entstanden.

Was der Forscher sagt, deckt sich mit Raaschs Erinnerungen: „Wir haben immer gedacht, das ist nur provisorisch.“ Sogar ein Offizier habe ihm im August 1961 gesagt, dass man bald wieder mit Ausweis und Passierschein zwischen Ost und West hin- und herpendeln könne. Dass es anders kam, lag daran, dass die Westmächte Berlin nicht fallen ließen. Und es lag an den Fluchten, die auch nach der Abriegelung West-Berlins nicht endeten: Der in der Nacht zum 13. August ausgerollte Stacheldraht wurde weggeschoben, durchgeschnitten oder sonstwie überwunden. Und weil Grenzkontrollstellen sogar von Autos durchbrochen wurden, stellten Volkspolizisten am 15. August Betonelemente in der Invalidenstraße auf, sagt Hertle. Improvisiert war das – und doch auch die Geburtsstunde der Mauer.

Deshalb weiß bis heute niemand, wie viele Bauarbeiter zur Errichtung des Bollwerks herangezogen wurden. Zumal sie nur in den ersten Jahren zu Werke gingen – bis die industrielle Fertigung der Mauer begann. Zuvor wurde die Grenze mit Betonplatten gesichert, die für den Wohnungsbau entwickelt worden waren. Über Nacht war der Befehl in den Betrieben eingegangen: Lastwagen, die Betonplatten für Neubausiedlungen geladen hatten, mussten Potsdamer Platz und Zimmerstraße in Mitte ansteuern. Dort entstanden die ersten Meter der Mauer: 2,20 Meter hoch, von Hohlblocksteinen gekrönt, in die Y-förmige Eisenträger eingelassen wurden – um daran Stacheldraht zu fixieren.

Auch Raasch baute mit. Sein Einsatzort: Das erste Haus auf sozialistischem Boden, wie Berliner aus dem Stadtteil Wedding die Bernauer Straße 43 nannten. Früh am Morgen ging es los. In den vierten Stock wurden sie geschickt, um Fensteröffnungen zuzumauern. Denn von hier aus hatten sich „Staatsfeinde“ die Freiheit genommen, die nur eine Hauswand entfernt war, denn schon der Bordstein der Bernauer Straße gehörte zur westalliierten Zone. An Seilen hatten sich die einen hinabgelassen, an Laken andere. Manche waren gestürzt und hatten sich schwer verletzt, einige wurden kurz vor dem Sprung von Volkspolizisten gestoppt.

Dass auch Maurer zur Republikflucht neigten, wusste das Regime. Fast jedem Brigadier stellte es einen schwerbewaffneten Volkspolizisten zur Seite. Für Raaschs Brigade war es der letzte Einsatz in der Bernauer Straße. Schlupflöcher in der Mauer gab es kaum noch, zwei Monate nach Schließung der Grenze.

Raasch wusste an jenem Tag: Dies war die vielleicht letzte Gelegenheit zur Flucht. Mittags hatten sie sich vom vierten Stock in den zweiten vorgearbeitet. Die Volkspolizisten hatten ihr „Versorgungspaket“ bekommen und zogen sich zum Essen in ein benachbartes Zimmer der Wohnung zurück. Raasch legte die Kelle ab, packte seinen Kollegen an der Schulter und sagte: „Geh mal zur Seite!“ Dann stieg er auf die Fensterbank, blickte noch einmal zurück und fragte: „Willste mit?“ Als der andere mit dem Kopf schüttelte, sprang er allein in die Tiefe.

Ingrid Raasch hatte da ihren Norbert schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Die Grenze war dicht. Oft war sie in Gedanken die Nacht vom 13. August durchgegangen. Nach einer Betriebsfeier hatte Norbert sie zur S-Bahn am Nordbahnhof begleitet. Doch Bahnen fuhren nicht mehr. Die erste Warnung – sie übersahen sie. Zu Fuß gingen sie zur Bornholmer Brücke. Stacheldraht lag da, ausgerollt. „Ich habe mich oft gefragt, warum wir nicht einfach losgerannt sind, zusammen“, sagt sie. Ein Volkspolizist kam, prüfte ihren Ausweis und ließ sie durch, nach Hause in die Prinzenstraße. Norbert Raasch kehrte zurück nach Prenzlauer Berg.

Zwei Monate später fuhr ein VW-Käfer der Polizei vor den „Solinger Stahlwaren und Waffen“ in der Prinzenstraße vor. „Jemand wartet auf Sie“, sagten die Schutzmänner. Gemeinsam fuhren sie ins Virchow-Klinikum. Da lag er, das Sprunggelenk gebrochen, in Freiheit. Dass er geflüchtet war, fiel der Brigade zunächst nicht einmal auf. „Bauarbeiter Raasch hat sich unberechtigt von der Baustelle entfernt“, notierten sie am Abend in einem Protokoll. Erst die zweite Notiz um 1.15 Uhr nachts machte die „Republikflucht“ amtlich.

Im Westen berichtete eine Zeitung von Raaschs Flucht unter der Überschrift „Fenster zur Freiheit“. Den Artikel hat Ingrids Chef in einen goldenen Rahmen eingefasst. Auf das Glas schrieb er mit Filzstift: „War es die Freiheit?“ Ingrid Raasch lacht und sagt: „Der meinte, ich gebe ihm die Knute.“ Und Norbert Raasch fügt hinzu: „Der Mauer bin ich entronnen, aber dann war es vorbei mit der Freiheit.“ Ingrid und Norbert Raasch heirateten am 30. November 1962.

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