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Berlin: Unterricht für kleine Weltbürger

An der Regenbogen-Grundschule lernen Kinder von der ersten Klasse an Französisch. Auch in Sachkunde und im Musikunterricht. Und manche beherrschen sogar drei Sprachen.

An diesem Morgen ist der Wolf los in der Regenbogenschule in Neukölln. Oder vielmehr: gleich vier kleine sprechende Wölfe. „Je suis Bill“, ruft einer von ihnen in einem Klassenzimmer im obersten Stock. „Je suis Boule“, ruft der zweite. Und gleich darauf der dritte: „Je suis Bulle“. Die drei stehen brav nebeneinander, Daniel, Rio und Emily. „Ich will auch eine Wolfsmaske“, ruft Timon, der ein Stück entfernt sitzt. „Non, tu n’es pas un loup. Tu es un meunier“, antwortet Lehrerin und Wolfsdompteuse Katia Binet. Kein Wolf, sondern ein Müller ist Timon also. Er guckt enttäuscht, den französischen Satz hat er gleich verstanden. Schließlich wird in seiner Klasse, der flexiblen Eingangsstufe, seit dem ersten Schultag fast genauso viel Deutsch wie Französisch gesprochen und gesungen: im Sachkundeunterricht, in der Musikstunde und vor allem bei Katia Binet in „Französisch als Partnersprache“. Dafür wird die Klasse aufgeteilt: Emily und die anderen Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, proben auf Französisch im obersten Stock für eine Schulaufführung „Der Wolf und die sieben Geißlein“.

Die andere Hälfte der Klasse, Kinder, die aus französischsprachigen Ländern stammen, studiert in der Aula im Erdgeschoss ein anderes Stück auf Deutsch ein: „Peter und der Wolf“ in einer sehr freien Interpretation. Gerade geht es um eine Szene ohne viele Worte. Der Wolf hier unten oder vielmehr die kleine Wölfin, die dunkelhäutige Jenny, wälzt sich gerade auf dem Boden hin und her. Denn in ihrem Magen tobt, ganz nach Regieanweisung, ein wilder Kampf: Der Vogel und die Ente, die der Wolf vorher als Ganzes hinuntergewürgt hat, treten von innen mit Karate-Kicks so lange gegen die Bauchdecke, bis das Ungetüm sie wieder ausspuckt. Alle anderen Kinder stehen im Kreis und machen ebenfalls Bewegungen, die entfernt an Kampfsport erinnern. Das abgewandelte Ende für das Theaterstück haben sich die Erst- und Zweitklässler im Unterricht „Deutsch als Partnersprache“ selbst ausgedacht. Genauso wie die Französin Katia Binet, die selbst in einer zweisprachigen Familie aufgewachsen ist, immer mit ihrer Gruppe Französisch spricht, unterrichtet ihre deutsche Kollegin Henriette Mathieu, die zweite Klassenlehrerin, ebenfalls ausschließlich in ihrer Muttersprache. Lesen und Schreiben lernen beide Gruppen auch getrennt voneinander und zunächst nur in der Sprache ihrer Eltern.

So sind die Voraussetzungen für alle Kinder zwar in der Theorie gleich, in der Praxis jedoch nicht: Deutsch sei die Umgangssprache auch in der Pause und am Nachmittag, sagt Katia Binet, während Französisch wirklich nur im Unterricht gesprochen werde. Die französischsprachigen Schüler haben einen Vorteil: Jenny und die anderen aus ihrer Gruppe sprechen fließend beide Sprachen. Daniel und Rio dagegen sind mit „Je suis Boule“ vollkommen ausgelastet. Verstehen ist leichter: „Est-ce que tu peux te concentrer un petit peu?“ mahnt Katia Binet – konzentrier dich. Daniel guckt etwas aufmerksamer.

Emily, die als „Leitwolf“ besonders viel Text hat, kommt der Zweisprachigkeit nach einem Jahr Unterricht an der Regenbogen-Grundschule schon ziemlich nahe. „J’en ai assez de manger des légumes,“ sagt sie mit sehr lauter, klarer Stimme. Der Wolf hat sich lange genug von Gemüse ernährt, bedeutet das. Die französischen Sätze kommen ihr leicht von den Lippen, Katia Binet muss nur selten soufflieren. Die anderen deutschsprachigen Kinder beginnen jetzt im Chor zu singen: „Prends garde au loup“ – nimm dich vor dem Wolf in Acht. Ihre Französischkenntnisse liegen irgendwo zwischen denen von Rio und Emily. „Manche Erstklässler sind besser als andere aus der zweiten“, sagt Katia Binet und fügt hinzu, dass alle Kinder vor der Einschulung zumindest passive Kenntnisse in der anderen Sprache haben sollten, etwa aus Ferienkursen oder der Kita.

Viele der Schüler beherrschen nicht nur zwei, sondern gleich drei Sprachen: Sie haben, wie Jenny, afrikanische Wurzeln oder arabische, chinesische, russische, spanische, sogar finnische. Meist ist ein Elternteil aus einem dieser Länder. Es sei kein Problem, dreisprachig aufzuwachsen, sagt Katia Binet. „Solche Kinder switchen viel natürlicher zwischen den Sprachen hin und her. Die dritte Sprache hat jede Bedrohung verloren.“ Die Herkunft der Kinder im bilingualen Zug, der als „Staatliche Europaschule Berlin“ ausgewiesen ist, sei sehr unterschiedlich, sagt der Europa-Koordinator der Schule, Norbert Weiser. Es gibt Kinder, die weit entfernt wohnen und deren Eltern Akademiker sind, es kommen Kinder aus der eher dünnen Bildungsschicht des Bezirks Neukölln, aber auch Kinder aus Neuköllner Familien mit Migrationshintergrund. „All diese Kinder heben sich meist schnell von jenen in den anderen Klassen ab.“ Die anderen Klassen – das sind die der „normalen Kiezschule“: Der Europa-Zug, den es erst seit 2005 gibt, macht nur einen kleinen Teil der Regenbogen-Schule aus. Aber auch für die „einsprachigen“ Kinder wird etwas Besonderes geboten: Ab der dritten Klasse können sie zwischen Englisch und Französisch als erster Fremdsprache wählen. Für die untersten Klassen gibt es einen freiwilligen „Schnupperkurs“.

Emily, Jenny und die anderen aus den bilingualen Klassen werden erst ab der fünften Klasse Englisch lernen. Das verschaffe ihnen jedoch keinen Nachteil, sagt Weiser. „Im Gegenteil: Bei den Englisch-Vergleichsarbeiten in der achten Klasse schneiden die Schüler aus allen Berliner frankofonen Grundschulen im Durchschnitt meistens besser ab als ihre Altersgenossen, die die Sprache schon zwei Jahre länger lernen.“

Nach der getrennten Theaterprobe ist gemeinsamer Musikunterricht in der Aula – bei Christine Poitié, einer Austauschlehrerin aus Frankreich. Sie spielt den Kindern französische Lieder vor, zu denen sie tanzen. Die Austauschlehrerin gibt auch den Sachkundeunterricht. Dabei bleiben die Kinder zwar im selben Raum, werden jedoch in zwei Gruppen aufgeteilt: Die deutsche „Groupe bleu“ macht in der einen Ecke physikalische Versuche mit Kugeln, Quadern und Wasser, die französische „Groupe rouge“ in der anderen Ecke. Nicht alle verstehen die Anweisungen der Lehrerin. „Sachkunde auf Französisch ist eine Herausforderung“, sagt Christine Poité. Anfangs hätten viele kaum dem Unterricht folgen können und die Aufgaben nur den anderen nachgemacht. „Aber alle machen Fortschritte. Immer wieder ist da so ein Funken, und sie haben wieder etwas verstanden.“ Am Ende der zweiten Klasse verstünden sie alles. Gut, dass Erst- und Zweitklässler gemeinsam unterrichtet würden.

Sprache ist nicht der einzige Schwerpunkt der Schule, auch Kunst spielt eine Rolle. Vor allem wird beides verbunden. Im obersten Stock hängen bunte Bilder und daneben die dazu gehörenden Geschichten über Ungeheuer und Schlösser – auf Deutsch und Französisch. Von Wölfen ist hier nichts zu sehen .

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