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An der Stadtgrenze: Hier ist Berlin zu Ende.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Bohnsdorf: Wo Berlin zu Ende ist

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 9: Bohnsdorf.

Die Gartenstadt Falkenberg ist, wie der Spitzname Tuschkastensiedlung schon sagt, ziemlich bunt. Knallrot, kanariengelb, kobaltblau, tiefschwarz, meeresgrün: Die Reihenhäuser strahlen in allen Farben des, nun ja, Tuschkastens. Muss eine bunte Zeit gewesen sein, die 1910er Jahre, als Baugroßmeister Bruno Taut hier Berlins avantgardistischste Arbeitersiedlung entwarf.

Vielleicht ist aber auch nur die Zeit, in der wir Nachgeborenen leben, eine besonders blasse. Kam mir jedenfalls so vor, während ich deprimiert an den neugebauten Ein- und Mehrfamilienhäusern vorbeilief, die in den letzten Jahrzehnten an den Rändern der Taut’schen Gartenstadt entstanden sind: überall mausgraue, schlammbraune und rentnerbeige Fassaden. Auf einer Brache unmittelbar neben der Tuschkastensiedlung warb eine Baustellentafel für „großzügige neue Reihenhäuser“. Laut Planzeichnung waren auch sie, euphemistisch ausgedrückt, in Naturtönen gehalten. Zufällig kam ich mit der Architektin ins Gespräch, die gerade mit einem Vermesser über die Brache lief. Die Siedlung solle „zurückgenommen in der Farbgebung“ sein, erklärte sie mir, der Bezirk wolle das so, damit die Neubauten nicht mit den Taut-Häusern konkurrieren. Ich nickte verständnisvoll, während ich dachte, dass zwischen Konkurrieren und Kapitulieren eine Menge Spielraum ist.

Die Klofrau hört am liebsten Depeche Mode

Die wahre Erbin der Bohnsdorfer Moderne begegnete mir auf der Toilette eines hässlichen Einkaufszentrums namens „Taut-Passage“ (der arme Bruno würde sich im Grabe umdrehen). Es war die Klofrau. Sie saß neben einem USB-Radio, das sehr laut Depeche Mode spielte. Auf ihrem Schoß lag – das denke ich mir jetzt nicht aus! – ein Tuschkasten. Hingebungsvoll bepinselte sie Malen-nach-Zahlen-Skizzen mit quietschbunten Wasserfarben. Als sie meinen Blick bemerkte, drehte sie das Radio etwas leiser. Ich deutete auf das große Dave-Gahan-Foto neben ihrem Plastikstuhl. „Fan?“ Sie strahlte. „Gibt keinen größeren!“ Bis zum Berliner Depeche-Mode-Konzert, erklärte sie mir, waren es noch knapp zwei Monate. „Manchmal wünschte ich, es wäre mehr. Je weiter es weg ist, desto länger kann ich mich drauf freuen. Wenn es morgen wäre, wäre ich ja übermorgen schon traurig, weil es vorbei ist.“

Ich beschloss, mir die heitere Philosophie der Klofrau für meine Kolumne anzueignen: Noch liegen 87 von 96 Ortsteilen vor mir – welch ein Glück!

Das Ende meines Wegs ist also noch weit entfernt, das Ende der Stadt aber konnte ich in Bohnsdorf schon mal besichtigen. Ganz im Süden des Ortsteils, hinter der Autobahn, liegen ein paar letzte, nach Pilzen benannte Straßen. Die Perlpilzstraße ist eine Sackgasse, sie endet vor einem Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtkrone. Im Zaun ist ein mannshohes Loch, das die Anwohner nutzen, um mit ihren Hunden auf der dahinterliegenden Wiese Gassi zu gehen. Die Wiese endet in der Ferne vor den Startbahnen des Flughafens Schönefeld. Etwa auf halber Strecke dazwischen, mitten im Nichts, verläuft die Stadtgrenze. Kaninchenlöcher klaffen im wintermatten Gras, darüber steigen im Minutentakt dröhnende Flugzeuge auf, der bleierne Himmel verschwimmt im Nieselregen, und Berlin ist hier zu Ende.

Fläche: 6,52 km² (Platz 59 von 96)

Einwohner: 11 356 (Platz 73 von 96)

Durchschnittsalter: 47,2 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Bruno Taut (Architekt), Max Buntzel (Gartenbaudirektor)

Gefühlte Mitte: Gipfel des Falkenbergs

Diese Kolumne erschien am 6. Mai 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

Alle Folgen zum Nachlesen: tagesspiegel.de/96malberlin.

Baumarktgöttinnen: Vorgarten-Deko in der Tuschkastensiedlung.
Baumarktgöttinnen: Vorgarten-Deko in der Tuschkastensiedlung.

© Jens Mühling

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