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Brot und Rosen: Die Sehnsüchte der FU-Studenten, hier auf dem Weg in das Hauptgebäude "Silberlaube", sind die gleichen wie eh und je.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Dahlem: Wo Studierende Liebe machen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 16: Dahlem.

Nach Dahlem fährt der Berliner im Großen und Ganzen aus zwei Gründen: weil er dort wohnt (knapp 17.000 Menschen), oder weil er dort studiert (etwa doppelt so viele).

Ich war sehr lange nicht an der FU gewesen, und das Erste, was mir in der guten alten Silberlaube auffiel, waren die Schwarzen Bretter. Die gab es noch! Ich dachte, die wären längst ins Internet abgewandert, aber nein, da hing die gleiche Zettellyrik wie einst: „Zimmer gesucht! Ich bin ein fröhlicher Sonnenscheinmensch, mit dem man viel lachen und Gespräche über Gott und die Welt führen kann...“ – „Zimmer gesucht! Ich würde mich generell als ein bisschen schüchtern bezeichnen...“ – „Für eine Live-Performance suchen wir Performer mit längerem Haar, die einen Kamm oder eine Bürste mitbringen müssen.“ – „Nehmt an der Studie ,Soziale Nähe & Emotionsregelung’ teil!“ – „Verkürzte Kapitalismuskritik: Input & Diskussion.“

Kälber dösen, Kinder schreien

Außer mir blieb kein Mensch vor den Zetteln stehen, alle starrten auf ihre Smartphones. Nur ein älterer Herr mit schütterem Ho-Chi-Minh-Bart machte kurz Halt, um einen Flyer anzupinnen: „Katharsis: Klanginstallationen und bewegte Bilder.“

Ich lief hinüber zur Domäne Dahlem. Auf der Kuhweide dösten Kälber in der Sonne, daneben schrie sich ein Junge im Kita-Alter die Seele aus dem Leib. Es dauerte, bis ich mir aus dem Beruhigungsgeflüster der Erzieherin zusammengereimt hatte, was passiert war: Der Kleine hatte gerade erfahren, wo die Schnitzel herkommen.

In jeder Ecke jedes Dahlemer Parks knutschten Studierende. Ich musste an eine Anekdote aus der Zeit denken, als Studierende noch nicht Studierende hießen. Mit einer Kommilitonin war ich Arm in Arm durch den Thielpark geschlendert. „Mama, wer sind die?“, fragte ein Mädchen, das uns an der Hand seiner Mutter entgegenkam. „Studenten“, antwortete sie, ohne uns näher anzusehen. Ich weiß noch, dass ich die Vorstellung traurig fand, an einem Ort zu leben, an dem man beim Anblick junger Knutschender sicher weiß, dass sie woanders wohnen.

Türschilder verbergen mehr, als sie preisgeben

Vielleicht war das auch ein Trugschluss. Wer kann schon sagen, was in den stillen Villen von Dahlem wirklich vor sich geht, deren Fassaden oft so auffällig unauffällig gehalten sind, mit diskreten Klingelschildern, die mehr verbergen als preisgeben: „Stiftungshaus“ steht da, oder „Klinik“, oder „Pforte“, und erstaunlich oft einfach gar nichts.

Im Alliierten-Museum waren die Passagiere eines Disney-Kreuzfahrtschiffs zu Gast. Mit einem Bus habe man sie von der Ostseeküste direkt ins Museum gebracht, erklärte mir ein amerikanischer Familienvater: „Little bit of history to teach the kids.“ Sofort musste ich an die russischen Touristen denken, denen ich in Alt-Treptow beim sowjetischen Ehrenmal begegnet war, am ersten Tag ihres ersten Berlin-Besuchs. Interessant, wohin es die Leute so zieht, dachte ich.

Auf dem Waldfriedhof kaufte ich zwei Rosen und fragte den Gärtner nach den Gräbern von Gottfried Benn und Harald Juhnke. Er zeigte den Weg auf dem Friedhofsplan. „Nach welchem wird am meisten gefragt?“, wollte ich wissen. Zu meiner Überraschung deutete der Mann auf ein drittes Grab: „Richard von Weizsäcker.“

Den größten Grabstein von den dreien hat Juhnke.

Diese Kolumne erschien zuerst im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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Fläche: 8,39 km² (Platz 43 von 96)

Einwohner: 16 678 (Platz 63 von 96)

Durchschnittsalter: 44,1 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Gottfried Benn, Harald Juhnke, Richard von Weizsäcker

Gefühlte Mitte: FU-Mensa

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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