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Renate Künast.

© dpa

Veränderungsangst: Berliner Grüne: Die Metropole als Feind

Jetzt wollen die Grünen Berlin erobern - mit einem Programm mit viel Herz und wenig Großstadt. Für das prächtige Chaos und die nervöse Härte des Urbanen haben sie keinen Sinn.

Erinnert sich noch jemand an den Werbeslogan »Weltstadt mit Herz«, der den besonderen Charme Münchens vor einigen Jahrzehnten fremdenverkehrsfördernd formulieren sollte? Jeder nüchtern seiner Weltstadt verbundene Londoner oder Pariser hätte sich gegen die Zumutung einer solchen Verbindung des Gemütlichen mit dem Glänzenden gesträubt und erklärt, dass man sich da schon entscheiden müsse: entweder für die Weltstadt oder für das Herz. Aber hierzulande spricht manches dafür, dass die irrwitzige Hoffnung, die sich in der Münchner Formel aussprach, noch immer populär und für das deutsche Verhältnis zur Großstadt virulent geblieben ist.

Vor ein paar Tagen hat Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung einigermaßen bestürzt das Wahlprogramm der Berliner Grünen durchgeblättert, mit dem Renate Künast im Herbst gegen den Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) antreten will. Was enthält ihr Versprechen bürgerfreundlicher Politik? Keine Neubauten, schon gar keine Hochhäuser, erst recht keine Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof, überhaupt nach Möglichkeit kein Wandel, nicht einmal jener, der verwahrloste Viertel durch Investorentätigkeit einem neuen Leben zuführte. Stattdessen Tempo 30, Verkehrsberuhigung, Milieuschutz für alle, selbst für jene, deren Milieus eher als erbärmlich einzustufen sind. Kurzum: viel Herz und wenig Großstadt, und das Herz vor allem für das Kleine, Überschaubare, Putzige, die nachbarschaftliche Idylle in dem tosenden Asphaltmeer.

Das Programm wirkt wie ein später Reflex auf jene Veränderungsangst, die nach der Wiedervereinigung weniger über den Osten (wie allgemein angenommen) als vielmehr schüttelfrostartig über den Westen der Stadt kam, die sich um keinen Preis der Herausforderung stellen wollte, nicht einmal neuer Bus- und U-Bahn-Linien, aber vor allem nicht dem Ende der ewigen Mittagsruhe, in dem die Stadt zur Provinz geworden war. »Ich will so bleiben, wie ich bin«, flehte das alte West-Berlin, damals ungehört. Und heute will ausgerechnet die grüne Partei, Mutter aller Emanzipationen, das ersehnte »Du darfst« sprechen? Ist der Schutz des Status quo der Modus, in dem eine Großstadt zu sich selber kommt?

Das ist keine Frage, die sich zuvörderst an die Politik der Grünen richtet. Ihre Wähler sind die Jungen, die Intellektuellen, die Ungebundenen und gut Ausgebildeten, von denen die Dynamik der Großstädte leben sollte und die es tatsächlich unwiderstehlich in die Großstädte zieht. Was heißt es, wenn ausgerechnet sie mit einem Programm zu locken sind, das überall nur die Notbremse zieht? Schon hat das Ausland sich entschieden und Berlin in den Rang der international satisfaktionsfähigen Metropolen erhoben. Künstler aus aller Welt, Neugierige, Touristen strömen herbei und definieren die Stadt. Sollte dies nur gegen den Willen und hinter dem Rücken ihrer Einwohner geschehen, die darin nichts als Lärmbelästigung und Entfremdung sehen?

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Stadtluft macht frei, aber diese Freiheit scheint vielen Deutschen vor allem Angst zu machen, mehr noch: Sie findet entschiedene Gegner in den Städten selbst. Ziehen wir einmal von dem Stuttgarter Bahnhofsstreit alles ab, was nüchterner Einspruch gegen Planungsfehler und überzogene Zukunftserwartungen der Bahn ist – dann sehen wir auch hier die Panik vor dem dynamischen Prinzip der Großstadt. Und zwar abermals weit über die linksalternative Protestklientel hinaus. Die Verteidigung alten Baumbestandes gegen eine Großbaustelle ist kein urbaner Reflex. Es sind dies aber auch die Bahnhofspläne nicht, insofern der Bahnhof, zentraler Knotenpunkt öffentlichen Lebens, unter die Erde verlegt und damit der Anschauung entzogen werden soll.

In Stuttgart stehen zwei Formen der Stadtfeindlichkeit einander gegenüber, die grüne, die den Stadtraum als Naturraum versteht und als solchen dem Wandel entziehen will, und die technokratische, die das Ungekämmte, so und so Gewachsene, meinetwegen Unpraktische, aber Gesellige nicht erträgt und seiner Ordnungsfantasie unterwerfen will. Die Synthese beider Positionen ist die Abneigung gegen den urbanen Dschungel, wie er sich überall auf der Welt sonst zeigen darf, nur in Deutschland nicht.

Während auf dem Land, ginge es nach den Umweltschützern, möglichst viele Flächen dem freien, unkontrollierten Wildwuchs der Natur überlassen bleiben sollen, will man den Wildwuchs in der Stadt um jeden Preis verhindern. Das krautige Durcheinander, das in jeder Großstadt von selbst entsteht, das Kioske wachsen und sterben, deutsche Arbeiterkieze in orientalische Basare verwandeln, bürgerliche Viertel versteppen, von intellektuellen Neusiedlern einnehmen und schließlich von Investoren wiederaufforsten lässt, das Getöse der Touristen und die schrille Farbigkeit der Einwanderermilieus – es ist offenbar zu viel für die schwachen deutschen Nerven.

Was für ein Bild von Gesellschaft herrscht, wenn es auf keinen Fall das Bild sein darf, das sich in den Disharmonien, den Ungereimtheiten, den Parallelwelten einer ständig neu besiedelten und umgenutzten Großstadt abbildet? Darf nicht einmal ein Zipfelchen dessen, was überall auf der Welt, in London wie in São Paulo, in New York wie in Mexiko-Stadt, zur Selbstverständlichkeit einer Metropole gehört, sich auch in Deutschland zeigen? Kann man nicht damit leben, dass jenseits der Gesetze des Staates in allem Übrigen die Gesetze der Submilieus und Substrukturen leben?

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Großstädte kennen keine Leitkultur; es sei denn in jenem abstrakten Sinne, dass sie gerade in dem tolerierten Nebeneinander und in der tolerierten Abweichung besteht. Mehr als die Einhaltung des Landfriedens und die Errichtung der Steuern verlangte auch die berühmte Toleranzformel Friedrichs des Großen nicht. Können wir heute nicht mehr den Freiraum gewähren, den das Preußen des 18. Jahrhunderts gewährte? Ist Vielfalt kein Wert, der aus unterschiedlichen Mentalitäten und Lebensweisen Ressourcen für die Zukunft schöpft? Müssen wir alles über den elenden Leisten des deutschen Normalbürgers scheren, dem schon eine Baustelle eine Baustelle zu viel, ein Kopftuch ein Bekenntnis oder auch nur eine Mode zu viel ist und der den eigenen schlechten Geschmack zum Maßstab für jeden macht?

Ja, das müssen wir wohl – wenn auch in Stuttgart, München und Berlin das heimliche Ideal nicht die Großstadt, sondern die Kleinstadt ist mit ihrer gespenstischen Kollektivaufsicht über die geringste individuelle Abweichung. Manches spricht dafür, dass auch die Sarrazin-Debatte keine Debatte um das Überhandnehmen schlecht ausgebildeter, aber womöglich fanatisch-religiöser, in jedem Fall kinderreicher Zuwanderer war – sondern eine Debatte um die Großstadt und darum, ob man das, was ihren Wesenskern ausmacht, ertragen kann, nämlich das Wuchern der Parallelwelten über den Heckenschnitt des deutschen Normalbürgers hinaus. Aber warum lassen sich die fremden Welten, sieht man einmal von kriminellen Auswüchsen ab, die nur die Polizei interessieren müssen, so schwer ertragen? Könnte es sein, dass sich in dem Hass auf das Fremde ein Selbsthass verbirgt, der auch in der eigenen Bevölkerung Abweichungen wittert, die er nicht ertragen oder auch nur zur Anschauung kommen lassen will?

Die Grünen sind gewiss unverdächtig, mit der Idee einer Leitkultur gegen Zuwanderer zu Felde zu ziehen. Aber auch sie wollen die Stadt stutzen und in ihrem Sinne einhegen. In der Sarrazin-Debatte stehen sich Lager gegenüber, die in ihrer Unversöhnlichkeit nahelegen, dass die deutsche Gesellschaft selbst in Parallelwelten zerfällt, die nur um den Preis eines Bürgerkriegs unter eine Leitkultur gezwungen werden können. In dieser Debatte hat sich jeder geoutet und ein Bajonett auf seine Meinung gepflanzt. Der liberale CSU-Politiker Peter Gauweiler hat seine Position einmal auf die Formel gebracht: »Lieber Kopftuch als Arschgeweih«, und damit angedeutet, was er von der Seite jener erwartet, die sich im Besitz der Leitkultur wähnen: nichts als die real existierende Vulgarität eines in Wahrheit kulturell längst entgleisten Kleinbürgertums.

Das war ein großartiges Bonmot – indes, in einer Großstadt müssen beide Platz haben, das Arschgeweih ebenso wie das Kopftuch, die Geschmacklosigkeit und die religiöse Prüderie. Oder weniger versöhnlich formuliert: Wo das Arschgeweih getragen wird, muss auch das Kopftuch ertragen werden.

Quelle: "Zeit Online"

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