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Berlin: Verborgene Talente

50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen: Was aus den Kindern der Gastarbeiter wurde

Schokolade. Das Wort kannte Fatih Özbek, als er mit sechs in die Schule kam. Viel mehr Deutsch verstand er damals, vor fast 30 Jahren, nicht, obwohl er in Berlin geboren war und hier auch die ersten sechs Jahre seines Lebens verbracht hatte. Zu Hause wurde nur türkisch gesprochen. Und auch jetzt, an der Kreuzberger Nürtingen-Grundschule, war überall türkisch zu hören – er kam in eine so- genannte Ausländerregelklasse. Alle Mitschüler waren Türken, und auch einige Lehrer. „Ich wäre viel lieber in die Parallelklasse gegangen“, sagt der 33-jährige Özbek heute in akzentfreiem Deutsch. „Da war nur die Hälfte der Schüler türkisch. Die bunte Mischung wirkte viel interessanter und irgendwie waren die nebenan was Besseres.“

20 Jahre vor Fatih Özbeks Einschulung war sein Vater nach Berlin gekommen – als einer der ersten türkischen Gastarbeiter nach dem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei 1961. Genau 50 Jahre ist das her und anlässlich des Jubiläums stehen die Gastarbeiter der ersten Generation im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aber was wurde aus ihren Kindern?

„In den späten siebziger Jahren wusste niemand etwas mit ihnen anzufangen“, sagt Öczan Mutlu, Bildungsexperte der Grünen, der selbst eine Ausländerklasse an der Nürtingen-Schule besuchte. Bis Anfang der 90er gab es die Klassen für Schüler ohne deutsche Staatsbürgerschaft – ungeachtet ihrer Sprachkenntnisse. Damit sollte verhindert werden, dass in Regelklassen mit deutschen Schülern mehr als 50 Prozent „Ausländer“ kamen.

„Es gab die Rückkehrillusion und zwar auf beiden Seiten“, sagt Gerd-Jürgen Busack, der bis 2006 die Nürtingen-Schule leitete: Sowohl die Deutschen als auch die Gastarbeiter hätten keine Notwendigkeit gesehen, dass die Kinder Deutsch lernten. So seien die Schulen allein gelassen worden: „Dadurch wurden die Potenziale mancher Kinder verschleudert.“ „Man hat damals gelernt, in ethnischen Grenzen zu denken“, sagt Markus Schega, der inzwischen die Nürtingen-Schule leitet. Heute bietet sie ein Montessori-Profil und zieht auch bildungsbewusste Eltern an. Ausländerklassen gibt es nicht mehr, nur 40 Prozent der Schüler sind türkischer Herkunft.

Auch die sogenannten Vorbereitungsklassen für Kinder, die kein Deutsch konnten, sind längst abgeschafft. Seit Mitte der achtziger Jahre gab es diese Klassen – mit türkischem Klassenlehrer und Unterricht auf Türkisch. Da sollten die Schüler eigentlich höchstens zwei Jahre bleiben – bei nicht wenigen wurden es sechs. Lehrerin Angelika Schwarz erinnert sich an einige der sechsten Vorbereitungsklassen: „Manche konnten kaum lesen und schreiben.“ 1978 kam sie „aus einem kleinen westdeutschen Dorf“ an die Schule und war geschockt. „Auch in den Regelklassen war die Sprachkompetenz oft nicht gut genug, um etwas anderes als Schmalspurunterricht zu machen“, sagt ihre Kollegin Hannelore Erdmann.

Nur zehn von seinen 30 Mitschülern hätten sich nach der sechsten Klasse gut auf Deutsch verständigen können, sagt Fatih Özbek. Er war einer von dreien, die eine Gymnasialempfehlung bekamen – und hat trotzdem nur einen Realschulabschluss gemacht. Gerade ist er dabei, „Fachagrarwirt für Baumpflege“ zu werden – und hat endlich deutsche Freunde, nämlich 50 Prozent. Daniela Martens

Eine Diskussion über die Folgen des Anwerbeabkommens findet am Sonntag, 30. Oktober, um 18 Uhr statt (Einlass ab 17.30 Uhr), im Verlagsgebäude des Tagesspiegels, Askanischer Platz 3, mit Barbara John, Tagesspiegel-Kolumnistin und ehemalige Berliner Integrationsbeauftragte, Tagesspiegel-Kolumnistin Hatice Akyün und Unternehmer Zekeriya Bayrak. Es moderiert Gerd Nowakowski, Leitender Redakteur des Tagesspiegels. Eintritt frei.

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