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Berlin: Verehrter Verbrecher

Vor 100 Jahren landete der Hauptmann von Köpenick seinen Coup. Seither ist Wilhelm Voigt ein Mythos

Die Niederbarnimer Zeitung kommt am Dienstag, den 16. Oktober 1906, mit einem Extra-Blatt heraus: „Heute Nachmittag gegen 4 Uhr traf hierselbst 1 Hauptmann mit 10 Soldaten ein. Sie gingen zum Rathaus und meldeten sich beim Bürgermeister. Sie hatten Allerhöchsten Befehl, das Rathaus zu besetzen, die Kasse an sich zu nehmen und den Bürgermeister Dr. Langerhans nebst Rendanten v. Wildberg zu verhaften. Der Befehl wurde sofort ausgeführt. Die Kasse wurde sofort gesperrt. (Es müssen wohl schwierige Sachen vorgekommen sein, denn eine derartige sensationalle Verhaftung steht einzig da. Die Red.)“.

Einen Tag später. Im Cöpenicker Tageblatt wissen sie inzwischen schon viel mehr: „Ein unglaublicher Gaunerstreich“ sei das, was da zunächst die roten Ziegelmauern des Rathauses und dann auch noch die ganze Stadt samt Kaiser und Militär bis in die Grundfesten erschütterte, „ein Gaunerstückchen, äußerst frech und raffiniert ausgesonnen und verwegen in Szene gesetzt, daher erst viel später als ein solches erkannt“.

Cöpenick im Aufruhr. Vor genau 100 Jahren. Am Ende lachen sie alle vereint in Europa, wie ein mittelloser Schuster als falscher Hauptmann den Untertanengeist und die Schwäche der Deutschen für alles Uniformierte ausnutzt, den Inhalt einer Stadtkasse ergaunert und damit verschwindet, bis man seiner habhaft wird und den vielfach Vorbestraften noch einmal zu vier Jahren verknackt. Knapp zwei davon sitzt er ab und vermarktet fortan sein Leben, bis ihn am 3.1. 1922 in Luxemburg der Tod ereilt.

Der Typ mit dem Schnauzbart und der Militärmütze hat mit seinem traurigen Schicksal in einer trüben Zeit Dichter und Denker, Feuilletonisten und Dramatiker, Filmemacher, Regisseure und Schauspieler beschäftigt. War dieser Wilhelm Voigt nun ein notorischer Krimineller? Wäre er als braver Schuster in Anklam gestorben, wenn man ihm nur einen Pass und eine Aufenthaltserlaubnis zugestanden hätte? War er Opfer seiner Zeit, die niemandem verzieh, der einmal aus dem Blechnapf fraß?

So unterwürfig wie elegant formuliert das Schlitzohr seinen Dank an Kaiser Wilhelm, als er am 18. 8. 1908 von seiner Begnadigung erfährt: „Allergroßmächtigster! Allerdurchlauchtigster! Allergnädigster Kaiser, König und Herr! Majestät! Eure allergnädigste Majestät Huld und Gnade haben mir in unverhoffter Güte ein Geschenk gemacht, das über Bitten und Verstehen ist. Für mich bedeutet Eure Majestät Gnade nicht bloß die Abkürzung einer zu verbüßenden Strafe, sondern die Erweckung zu neuem Leben.“ Ein Jahr später erscheint die Biographie des berühmten Mannes, der auf Rummelplätzen seine Autogrammkarten verkauft und durch Amerika, Kanada und England „auf Lesetour“ geht. „Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde“ ist das authentische Zeugnis einer traurigen, gerissenen und von der Zeit zerrissenen Kreatur. Jetzt ist diese selbstbespiegelnde Reportage im Verbrecher Verlag Berlin erschienen, und Ludwig Lugmeier schreibt im Nachwort, das Buch sei „voller Ungenauigkeiten, Verdrehungen und Haarspaltereien, voller Katzbuckeleien, Angebereien und Rührseligkeiten“. Dennoch: sehr lesenswert ist es allemal, was der Herr Voigt über sich, seine Familie und sein Leben schreibt, ein Sitten- und Zeitgemälde – immer sind die anderen schuld, während Wilhelm dauernd vom Pech verfolgt wird, aber auf jeden Fall „regen Geistes war“ und ein besonderer Verehrer des Militärs.

Die Frage, wie er auf die Idee zur Köpenickiade gekommen ist, beantwortet er so: „Ich hatte analoge Vorgänge schon aus der Geschichte kennengelernt. Ich erinnere mich an den Großen Kurfürsten, der auch den Bürgermeister von Königsberg in der Nacht von seinen Trabanten aufheben und nach Brandenburg schaffen ließ, wo er, wenn ich nicht irre, 28 Jahre in der Gefangenschaft verbringen musste. Auch an die Geschichte von Michael Kohlhaas dachte ich, der vielleicht den bekanntesten Typ des Rechtsbrechers aus gekränktem Gerechtigkeitsgefühl darstellt“. Auf Seite 72 seiner Memoiren schreibt Voigt: „Instruktionen zu irgendeiner gewalttätigen Handlung hatte von meiner Seite niemand erhalten. Ich wußte ganz genau, daß ich zu dem, was ich befehlen würde, unbedingten Gehorsam finden oder ihn mir jedenfalls verschaffen würde“.

Die Uniform tat alles. Kleider machen Leute. „Wie ich dem Bürgermeister von Köpenick mitteilte, dass ich ihn auf Allerhöchsten Befehl nach Berlin zur Wache zu bringen hätte, war er, wie begreiflich, zunächst darüber sehr bestürzt. Als er in mich drang, ihm zu seiner Beruhigung doch zu sagen, was eigentlich gegen ihn vorliege, da habe ich ihm völlig wahrheitsgetreu gesagt, ich wüsste das nicht.“

Mit Handy wär’ einem das alles nie passiert.

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