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Berlin: Verhaftet, geflüchtet, entführt – und spät geehrt

Der Aufstand veränderte ihr Leben für immer: Sechs Menschen, sechs Schicksale

Horst Schlafke musste als Angehöriger der Hitler-Jugend nach dem Krieg drei Jahre in der Ukraine Zwangsarbeit leisten. Er gehörte zu den am besten bezahlten Arbeitern in der DDR, war aber einer der Anführer der Streikbewegung. Schon am 12. Juni empörte sich der Arbeiter vom Block C Süd der Stalinallee: „Zeigt uns die Leute, die freiwillig für eine Normenerhöhung gestimmt haben! Eher kriegt ihr uns nicht mehr auf das Gerüst!“ Schlafke war es, der vor dem Haus der Ministerien schließlich die Parole vom „Generalstreik“ aufbrachte. Er flüchtete nach der Niederschlagung in den Westen.

Max Fettling war Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung auf der Baustelle des Krankenhauses Friedrichshain. Er unterschrieb die Resolution, mit der die Rücknahme der Normenerhöhung gefordert wurde, und brachte sie am 15. Juni mit einer Delegation zum Haus der Ministerien. Obwohl er beschwichtigend auf die Arbeiter einwirkte, wurde ihm vorgeworfen, er sei „Hauptorganisator“ der Streiks gewesen. Fettling wurde wegen „faschistischer Provokation“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, 1957 jedoch vorzeitig entlassen. Danach siedelte er in den Westen Berlins über und starb 1974. Jetzt soll der Platz vor dem Krankenhaus Friedrichshain nach ihm benannt werden.

Heinz Pahl arbeitete als Putzer im Block 40 der Stalinallee. Bei den Demonstrationen lief er immer an vorderster Front mit. Nach dem Aufstand sah er für sich keine berufliche Zukunft mehr in der DDR, flüchtete aber erst 1961. Sein Wirken wurde in dem kürzlich angelaufenen Film „Der Aufstand“ festgehalten.

Heinz Brandt war überzeugter Kommunist und SED-Sekretär für Agitation und Propaganda in Ost-Berlin. Trotzdem blieb ihm das System der DDR immer suspekt. Am 17. Juni trat er für einen liberalen Kurs gegenüber den Streikenden ein und unterstützte bei Bergmann-Borsig in Wilhelmsruh einen Betriebsausschuss der Arbeiter. Er flüchtete 1958 nach West-Berlin, um einer Verhaftung zuvor zu kommen. Drei Jahre später wurde er nach Ost-Berlin verschleppt und zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt – 1964 nach internationalen Protesten begnadigt. Nach Brandt, der später als Redakteur in Frankfurt (Main) arbeitete und 1986 starb, soll eine Straße in Pankow benannt werden, die allerdings erst gebaut werden muss.

Erika Sarre aus Eberswalde war Mitglied in der Jugendorganisation der SED, der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ). Sie arbeitete als Hilfskraft in der Stalinallee und demonstrierte am 16. Juni mit. Vor dem Haus der Ministerien wurde sie von einem Spitzel auf ihre FDJ-Bluse angesprochen und aufgefordert, sich die Namen der Protestierenden zu merken. Sie stieg daraufhin vor dem Gebäude auf einen Tisch, der als Rednertribüne diente, schleuderte ihre Bluse zu Boden und rief: „Unter euch sind Spitzel! Lasst euch nicht als Denunzianten missbrauchen!“ Die heute 67-Jährige flüchtete in den Westen.

Josef Graczynski arbeitet als Zimmermann auf einer kleinen Baustelle in Berlin und wohnte in Weißensee. Er marschierte am 16. Juni mit zum Haus der Ministerien, auch am nächsten Tag war er wieder dabei. Als am Potsdamer Platz die ersten Schüsse fielen, flüchtete er in den U-Bahnhof. Dort beschloss er mit anderen Bauarbeitern, zum Rias in den Westteil zu fahren. Halb Deutschland hörte zu, wie er atemlos über die Vorgänge berichtete. Als er wieder zurück kam, wurde er festgenommen. Weil er auch noch Westgeld in der Tasche hatte, wurde er als „faschistischer Provokateur“ abgestempelt. Im Gefängnis Hohenschönhausen wurde er verhört und mit Scheinhinrichtungen traktiert, nach acht Tagen aber mangels Beweisen freigelassen. Seine Erfahrungen werden in einem Theaterstück in der Gedenkstätte Hohenschönhausen (Premiere am 16.6., 22 Uhr, Tel. 98 60 82 424) wiedergegeben.

Christian Hönicke

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