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Verkehr in Berlin: Fußgänger in der Gefahrenzone

Passanten leben auf Berlins Straßen nicht besonders sicher. Sie sind umzingelt von Rambo-Rasern, Kamikaze-Radlern, schnellen Bussen und zu leisen Straßenbahnen. Ein Risiko-Report.

Diese Stadtwanderung beginnt an der Grunerstraße hinter den Rathauspassagen. Zehn Fahrspuren trennen das Klosterviertel mit Senatsverwaltungen, Amts- und Landgericht vom Alex – wie eine zeitgenössische Stadtmauer. Die vielen Fußgänger mit Zielen jenseits der Straße laufen Gefahr, direkt im Jenseits anzukommen: Erst fünf Spuren mit Verkehr von links, durchschnaufen auf der Sperrfläche in der Mitte – und ab über die anderen fünf. Der Tunnel spuckt die Autos aus wie ein Katapult. Am rettenden Ufer das Gefühl „Gerade noch mal gut gegangen“. Anderenfalls würde im Polizeibericht als Unfallursache stehen: „Überschreiten der Fahrbahn, ohne auf den Fließverkehr zu achten“.

Der ideale Platz also, um einen Stadtspaziergang zu beginnen, der zu den Unfallzahlen passt: Im ersten Dreivierteljahr 2011 sind fast 25 Prozent mehr Fußgänger im Straßenverkehr tödlich verunglückt als im gleichen Zeitraum 2010, hat das Statistische Bundesamt kürzlich mitgeteilt. In Berlin ist die Tendenz ähnlich: Von 54 Verkehrstoten im vergangenen Jahr waren 29 zu Fuß unterwegs. Im ganzen Jahr 2010 starben 44 Menschen; rund die Hälfte von ihnen waren Fußgänger, und ebenfalls rund die Hälfte traf keine Schuld. Als Fußgänger kann man manchen Fehler nur einmal machen. Kein anderer Verkehrsteilnehmer in Berlin lebt statistisch so gefährlich. Welcher Horror hinter der Zahl der jährlich rund 500 schwer verletzten Fußgänger steckt, lässt schon ein Blick auf den 1. Januar ahnen: Das Jahr war gerade eine Viertelstunde alt, als ein unbekannter Autofahrer in der Skalitzer Straße einen 50-Jährigen anfuhr. Der Fußgänger ringt mit dem Tod, der Autofahrer flüchtete. Täglich findet sich im Polizeibericht mindestens ein Fall, den man sich gar nicht im Detail vorstellen mag: Ein Abbieger kracht in eine 26-jährige Mutter, die ihr Baby im Kinderwagen über die Straße schiebt. Tage später braust eine Autofahrerin in der Grabbeallee illegal über die mittige BVG-Trasse – und rammt zwei Jungen, die schwer verletzt werden. Wenn so etwas Alltag ist, gibt es offenkundig ein Problem.

In einer Untersuchung der Polizei heißt es, Fußgänger kürzten oft ab, „um vermeintliche Zeitvorteile zu erlangen“. Vermeintlich? An der Grunerstraße läuft man zur nächsten Ampel mehrere Minuten. Und seit selbst bei Dunkelorange mindestens ein Autofahrer noch durchrauscht, sollte der grüne Ampelmann seinen Hut gegen einen Helm eintauschen.

Aber spazieren wir weiter: Selbst auf dem Alex als Quasifußgängerzone müssen sich Fußgänger vor ihren Feinden hüten: Ein falscher Schritt und sie geraten in die Schusslinie eines Kamikaze-Radlers, Paketlasters oder einer Tram. Spätestens im Getümmel an der Karl-Liebknecht-Straße zeigt sich, dass Fußgänger im Stadtverkehr das Ende der Nahrungskette sind, die irgendwo bei Allradcowboys und Lieferanten beginnt, sich fortsetzt über Taxi-, All- und Sonntagsfahrer, bevor sie Radler und Hunde erreicht, die dem Fußgänger zumindest das höhere Tempo bei Jagd und Flucht voraushaben. Die Verkehrsplaner haben die Gehwege entsprechend gründlich verpollert. Aber wenn an der Spandauer Straße erst ein abbiegender Rambo und dann die üblichen Radler mit ihrem geglaubten Immergrün die Fußgängerfurt kreuzen, ist der Flaneur wieder der Guppy im urbanen Haifischbecken.

Weiter führt der Weg an den Bauzäunen um die Staatsoper herum zum Opernpalais. Unter den Linden wechseln breite Gehwege mit kellerartigen Baustellenpassagen, aber die sind eher lästig als gefährlich. Hier drohen andere Risiken. „Gehen Sie da mal nachts lang“, rät Bernd Herzog-Schlagk. „Da leuchten die Laternen nur die Straße richtig aus, während es auf den Gehwegen schwarze Inseln gibt.“ Herzog-Schlagk ist Bundesvorsitzender des Fußgängerschutzverbandes. Ein Anruf bei ihm liefert ein weiteres Indiz für den Status der Fußgänger: Während der ADAC einem Konzern ähnelt und auch im Radlerclub ADFC das „A“ für „Allgemein“ steht, meldet sich Herzog-Schlagks Bürokollege am Telefon mit „Umkehr und Fuss e.V.“. Das klingt nach Splittergruppe und schlechtem Gewissen. Doch mit 30 Prozent Verkehrsanteil sind die Fußgänger in Berlin die größte Randgruppe, gleichauf mit den Autofahrern. Als Fachverband habe Fuss e.V. bundesweit 700 Mitglieder, sagt der Vorsitzende. Der ADAC zählt 20 000-mal so viele. „Würden wir richtig Politik gegen den Radverkehr machen, könnten wir zum Mitgliederverband werden.“ Doch im Gegenteil: „Wir planen gemeinsam mit dem ADFC eine Kampagne für mehr Rücksichtnahme.“

Helmpflicht für Fußgänger?

Im Unterschied zu Autos und Fahrrädern sind die Fußgänger auch in den letzten Jahren kaum schneller geworden. Sie haben es höchstens eiliger. Als ein Hauptrisiko nennt das Polizeipapier die „Unsitte des plötzlichen Hervortretens hinter Sichthindernissen“.

„Wie soll man denn anders hervortreten als plötzlich?“, fragt Herzog-Schlagk. Nach seinem Eindruck schaut die Polizei sehr auf die formale Schuldfrage, aber nicht konsequent genug auf die Ursachen wie Falschparker im Blickfeld. Auch bei den Ampelschaltungen sei Berlin „eher rückständig“: Laut einer Richtlinie sollen die beiden Teile einer Straße mit Mittelinsel möglichst in einem Rutsch überquert werden können, aber dafür seien die Ampelphasen meist zu kurz, weiß Herzog-Schlagk. Von separaten Grünzeiten für Fußgänger ganz zu schweigen. Das ärgert ihn umso mehr, als laut Straßenverkehrsordnung seit 2009 Sicherheit vor flüssigem Verkehr geht. Niemand wage das umzusetzen. Verglichen mit der Bundesregierung sei Berlin aber fortschrittlich: „Im Verkehrssicherheitsbericht von Minister Ramsauer tauchen Fußgänger nur als Kinder und Hochbetagte auf.“ Tempo 30 als Regeltempo für den Stadtverkehr sei vom Städtetag ebenso gefordert worden wie vom EU-Parlament und vom Wissenschaftlichen Beirat des Verkehrsministers, aber fachlicher Rat interessiere die Bundespolitik nicht.

Auf dem weiteren Spaziergang fällt immerhin auf, dass die Gehwege meist passabel sind – wenngleich manchen Vierteln eine UN-Tretminenkonvention guttäte. Und die inzwischen überwiegend abgesenkten Bordsteine erleichtern Senioren, Kinderwagenschiebern und Behinderten den Weg sehr.

Der Fußgängerlobbyist ist froh, dass noch der rot-rote Senat im Sommer die Fußverkehrsstrategie beschlossen hat. Denn zwar ist das Verkehrsressort bei der SPD geblieben, aber außer drei Pilotprojekten zu „innovativen“ Ampelsteuerungen (z.B. blinkendes Grün, bevor es Rot wird) sowie der ohnehin laufenden Vermehrung der statistisch relativ sicheren Zebrastreifen ist nichts sicher: Was wird aus den Tempo-20-„Begegnungszonen“ im Getümmel am Checkpoint Charlie und in der Bergmannstraße? Die CDU jedenfalls fand das „absurd“, die Behörde „prüft“ jetzt.

Um Fußgänger vor sich selbst zu schützen, hat Ramsauer jetzt zum Verzicht auf Kopfhörer gemahnt. Da der Verkehrsminister allerdings – gemäß einer EU-Forderung – die Opferzahlen senken, aber das schnelle Autofahren als Hauptursache nicht antasten will, müsste er eine Helmpflicht auch für Fußgänger fordern. Für den Winter kann die Abhilfe vielleicht so aussehen wie die warnwestenglimmende Kita-Gruppe auf dem Pariser Platz.

Ja, sagt Herzog-Schlagk: Durch die immer helleren Lampen der anderen würden die Fußgänger mehr geblendet, aber nicht unbedingt besser gesehen. Dabei sind die Kinder am Brandenburger Tor recht sicher, denn statistisch passiert im November, werktags und in Neukölln am meisten. Dort sollte man sich also an einen der stadtweit „20 grünen Hauptwege“ halten, die der Senat sogar beim Patentamt als Marke schützen hat lassen. Oder einen starken Partner wie die BVG wählen. Aber Vorsicht auf dem Weg zur Haltestelle.

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