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© Thilo Rückeis

Winterwetter: Wind, Schnee, Regen: Die Straßenbahn hält

Auf die Straßenbahn war auch bei strengem Frost Verlass. Dabei setzt der Winter auch ihr zu. Zumindest ist täglich eine Wäsche fällig.

Zug Nummer 1058 sieht nach einer Partynacht aus, als er am Vormittag auf den Betriebshof Lichtenberg rollt. Im Gang liegt eine zerdepperte Bierflasche, weiter hinten Papierfetzen, ein plattgetretener Kaffeebecher und eine Coladose. „Und das war nur der Frühverkehr“, sagt Fahrzeugelektriker Karsten Krenz, während er den Zug in die riesige Werkstatthalle an der Siegfriedstraße rollt. Auf den Nachbargleisen stehen mehrere angejahrte Tatra-Wagen, drei Exemplare des „GT6“ genannten Modells aus den Neunzigern sowie einer der vier „Flexity“-Vorserienzüge, die die BVG zurzeit erprobt. Ihnen allen ist gemein, dass sie in diesem Winter selbst bei zweistelligen Minustemperaturen recht pünktlich fuhren – und so auch zur Rettung für viele Berliner wurden, die an der S-Bahn verzweifelten. Weit mehr als die übliche halbe Million Tramfahrgäste am Tag erlebten, dass öffentliche Verkehrsmittel auch in einem strengen Winter funktionieren können. Auf dem Hof in Lichtenberg – einem von vieren der BVG für die Tram – ist zu besichtigen, wie das gelingt.

Ein Kollege ist in dem hell beleuchteten Schacht unter Zug Nummer 1058 verschwunden. Nach zehn Minuten taucht er wieder auf und notiert, dass Fahrwerk und Bremsen optisch in Ordnung sind. Krenz klingelt kurz, der helle Ton schwebt durch die weite Halle, die Bahn fährt ein paar Meter vor. „Jetzt wird getankt“, sagt er und öffnet die Klappen unter den Seitenscheiben, die tatsächlich wie Tankdeckel aussehen. Dahinter gibt es sogar einen Einfüllstutzen. Was durch den Rüssel rauscht, den Krenz jetzt einhängt, ist Bremssand. Knapp 30 Liter fasst ein Behälter; bei nassen oder gar vereisten Gleisen müssen sie täglich aufgefüllt werden. Macht bei sechs Kästen fast 180 Liter Sand, die ein Zug Tag für Tag auf die Gleise schütten kann.

„Die neue Flexity dosiert sparsamer“, sagt Oliver Heisel, der dazugekommen ist. Der Techniker kennt die Winterprobleme am besten. Ein besonders unangenehmes hat ebenfalls mit Sand zu tun, genauer mit dem Granulat, mit dem BSR und Winterdienste streuen. Sammeln sich zu viele solche Steinchen auf dem Gleis, kann ein Rad kurzzeitig abheben, so dass der stetige Stromfluss zwischen Rad und Schiene abbricht. Ähnlich wie in der heimischen Steckdose funkt es dann – aber bei der Tram oft so kräftig, dass sich ein kleiner Krater in den metallenen Radreifen brennt. Den erkennt oft schon der Fahrer unterwegs am Geräusch. Am Rand der Werkstatthalle werden die Räder nach dem Burnout an einer Drehmaschine unterm Gleis wieder rund gemacht, sofern ihre Struktur sich bei Ultraschallmessungen noch als intakt erwiesen hat. Heisel berichtet von bisher mindestens 50 Radscheiben, die diesen Winter nicht überlebt haben. Angesichts von 800 Euro pro Stück schmerzt ihn das.

Neben den Radreifen liegen auch einige Fahrmotoren für die Tatras auf Lager, weil die im Winter gern Feuchtigkeit ziehen und ausfallen. Früher waren die Tatras noch anfälliger, weil sie ihre Kühlluft über große Lamellen von außen ansaugen, aber der Einbau von Filtern hat geholfen. Ansonsten gelten die Türen als kritischster Punkt. Fetten und sauberhalten beugt vor, aber hilft nicht immer.

BVG-Straßenbahndirektor Klaus-Dietrich Matschke sagt, dass die Winterfestigkeit schon bei der Konstruktion beginne. So haben sich die Hightech-Hublifte für Rollstuhlfahrer des GT6-Modells als störanfällig erwiesen, wenn vereiste Schneereste an der Haltestelle liegen. Also bekommt die neue Flexity robuste mechanische Rampen. Die BVG plant mit dem Hersteller gemeinsam. Auch werden die Fahrer technisch geschult, um kleinere Probleme selbst zu beheben. Gelingt das nicht, fahren sie möglichst bis zur Endstation – und werden dort dank einer Funkmeldung an die Leitstelle bereits vom hauseigenen Pannenhelfer erwartet. „Dass ein Zug wirklich liegen bleibt, passiert ein, zwei Mal pro Jahr“, sagt Matschke. Auf die BVG-Tramflotte umgerechnet bedeutet das: ein Totalausfall alle zehn Millionen Kilometer.

Karsten Krenz fährt weiter zur Waschanlage. Im Sommer reicht eine wöchentliche Wäsche, bei Matsch- und Regenwetter ist fast täglich eine fällig. Eine Viertelstunde lang arbeiten sich die Bürsten an Nr. 1058 ab. Dann steigt der Mann von der Reinigungsfirma ein. In zehn Minuten ist er durch, der Boden glänzt wieder, die Kundenzeitschrift steckt in den Körbchen. Am Nachmittag startet der Zug in den Berufsverkehr. Wenn er zurückkehrt, wird er wieder aussehen wie zuvor.

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